Update: KI-Jahreszeiten

Im Jahr 2016 gewann AlphaGo gegen einen der besten Spieler der Welt. 2017 begann die automatische Übersetzung statt schwer verständlichem Murks weitgehend korrekte, verständliche Sätze zu liefern. Seit 2018 funktioniert die Transkription von Audioaufzeichnungen ohne vorheriges Training und ohne lange Nachbearbeitung. 2019 konnte man plötzlich Fotos von Menschen erzeugen, die gar nicht existieren.
Seit 2020 lässt sich mit den diversen „GPT“-Werkzeugen Text erzeugen, der wie von Menschen geschrieben wirkt. Ab 2021 genügte eine Bildbeschreibung zum Erzeugen von Bildern in beliebigen Stilen. Es wirkt so, als sei die Diskussion um „Künstliche Intelligenz“ erst jetzt richtig in Gang gekommen. Klar, vorher wurde auch schon 60 Jahre lang über das Thema debattiert. Aber doch eher theoretisch. Oder?
Carver Mead ist Mikroelektronik-Pionier und hat ab den 1960er Jahren an Hardware gearbeitet, die von der Forschung an biologischen Vorgängen inspiriert war. Mitte der 1990er Jahre wurde er deshalb für den Sammelband „Talking Nets: An Oral History of Neural Networks“ befragt. Zu seinem Interviewer sagt er: „Sie erinnern sich vermutlich an ein paar von meinen frühen Vorträgen, die gingen so: ‚Lieber nicht so viel Hype um diese neuronalen Netzwerke, damit das nicht wieder zu einem Crash führt. Wir brauchen nicht noch mal eine zwanzigjährige Flaute wie nach dem Perceptron.‘ Ich glaube, die haben wir jetzt wirklich hinter uns. Ich habe das Gefühl, das geht jetzt nicht mehr weg.“
Mit der „Flaute nach dem Perceptron“ meint Mead den ersten der sogenannten KI-Winter. Das Perceptron war in den 1940er Jahren eine Maschine und später ein Softwarekonzept. Es ist ein Vorläufer der Techniken, die heute erfolgreich eingesetzt werden. Weil damals die Rechenleistung noch nicht ausreichte (für Kolumnenzwecke vereinfachte Darstellung), sah es Ende der 1960er Jahre so aus, als sei die Perceptron-Forschung eine Sackgasse. Erst in den 1980er Jahren begann das Fördergeld wieder zu fließen. Nur wenige Jahre später brach schon der zweite Winter der KI an, in dem man sich enttäuscht von den in der Zwischenzeit entstandenen Ideen abwendete. Dieser zweite Winter war zum Zeitpunkt des Gesprächs noch nicht ganz vorbei.
Noch 2002 sagt Rodney Brooks, damals Direktor des „AI Lab“ am Massachusetts Institute of Technology, in einem Interview, es herrsche „da draußen ein dummer Mythos, dass KI gescheitert ist, dabei sind wir in jeder Sekunde des Tages von KI umgeben.“ Als Beispiele für diese Umgebenheit nennt er: Die Einspritzsysteme in Verbrennungsmotoren, die Zuweisung von Flugzeugen zu Gates an Flughäfen, computergenerierte Figuren in Film und Gaming sowie „Clippy“ (in Deutschland „Karl Klammer“), den büroklammerförmigen „Office-Assistenten“ von Microsoft.
2005 scheint der Mythos vom Ende der KI noch nicht überwunden gewesen zu sein. Der Informatiker und Autor Ray Kurzweil klagt in seinem Buch „The Singularity is Near“ (auf Deutsch: „Menschheit 2.0): „Ich begegne immer noch Leuten, die behaupten, künstliche Intelligenz sei in den 1980er Jahren eingegangen“. Seine Belege für das Gegenteil sind Spamfilter, Handschrifterkennung, die automatische Erkennung betrugsverdächtiger Kreditkartenbuchungen, strategische Anwendungen in Militär und Raumfahrt, medizinische Diagnosesysteme und ein Prototyp des selbstfahrenden Autos. Die meisten seiner Beispiele sind teuer und spezialisiert. Je nach Beruf wird man höchstens einem davon wissentlich im Alltag begegnen. Die einzige Ausnahme sind „virtuelle Agenten“ im Kundschafts-Service, mit denen aber „nicht alle zufrieden“ seien. Genau wie mit „Karl Klammer“, der so unbeliebt war, dass er bald wieder abgeschafft wurde und bis heute Stoff für boshafte Memes liefert.
Die Ergebnisse der KI-Forschung waren also vorhanden, aber für die meisten Menschen unsichtbar, und dort, wo sie sichtbar waren, fielen sie vor allem unangenehm auf. Das hat sich geändert, und das ist die eigentliche Neuerung der letzten Jahre. Alle eingangs genannten Dinge kann man auch nutzen, wenn man nicht an einer Universität oder in einer mit viel Geld ausgestatteten Branche arbeitet. Die meisten gibt es kostenlos, bei den übrigen sinken die Preise. Vielleicht hat Carver Mead also mit 25 Jahren Verspätung recht und es kommt jetzt wirklich kein weiterer KI-Winter mehr. Vielleicht greift aber auch der hier schon ab und zu erwähnte „KI-Effekt“ und wir vergessen alle gemeinsam, dass diese Techniken irgendwann einmal unter dem Namen „Künstliche Intelligenz“ beworben wurden. Dann geht die Geschichte wieder von vorne los.
