Update: Baumhaus-Utopien

Ich mag keine Baumhäuser, jedenfalls nicht in Büchern. Wenn die Figuren in einer Geschichte die Baumhaus-Siedlung erreichen, in der die sympathische alternative Lebensweise praktiziert wird, höre ich meistens auf zu lesen und lösche das E-Book. Die Kolumne „Update“.
Menschen, die Romane über die Zukunft oder über andere Planeten schreiben, geben sich immer so viel Mühe mit der detaillierten Beschreibung der ungerechten, freudlosen und hässlichen Welt, der ihre Figuren entfliehen müssen. Aber die Alternativen zu dieser Welt bleiben seltsam vage. Es scheint nicht so viel Spaß zu machen, sie auszudenken und zu beschreiben. Und oft enthalten sie eben Baumhäuser oder irgendwelche Gebäude aus Kristallen, mindestens aber eine ländliche Situation mit Holzhäuschen und Rosensträuchern.
Ich kann mir schon vorstellen, wie es dazu kommt. Ein Grund ist die Begeisterung fürs Bauen, weil Bauen vergleichsweise leicht geht und ein gut sichtbares Ergebnis bringt. Sie zeigt sich oft in Hilfsprojekten für arme Länder: Wir bauen einen Brunnen! Oder eine Schule! Der Rest ergibt sich dann schon! Aber das Bauwerk ist der einfachste Teil der Veränderung. Die Existenz eines Schulhauses führt nicht automatisch zum Entstehen von Lehrkräften, und die Existenz schöner Architektur nicht von allein zu friedlichen Formen des Zusammenlebens. Das Baumhaus ist besonders beliebt, weil es in der Gegenwart einen Wohnort für Menschen darstellt, die ganz anders leben wollen. Wenn man eine Zukunft oder alternative Welt zeigen will, in der Individualismus geschätzt und nicht unterdrückt wird, dann leben also in dieser Welt alle in Baumhäusern. Alle? Ja, alle! Nein, du kannst dir kein Haus aus Beton in unserem Baumhauswald bauen, Ela-Nangilika, spinnst du? Außerdem lassen sich Baumhäuser und Kristallgebäude gut zeigen, falls Netflix die Rechte am Roman kauft. Man erkennt dann ohne weitere Erklärungen, dass hier Wesen leben, die das Schöne und damit automatisch auch das Gute wollen.
Allerdings lebten in Europa vor noch nicht so langer Zeit die meisten Menschen in ländlichen Situationen mit Holzhäuschen und vielleicht sogar Rosensträuchern, ohne sich dabei auffällig für das Gute einzusetzen. Die schöne Umgebung war ohne weiteres in der Lage, Ungerechtigkeit, Hass und Gewalt zu enthalten. Was man nämlich eigentlich braucht, sind menschenfreundliche Regeln. Die lassen sich leider viel schlechter im Film zeigen, und sie in einem Buch zu erklären, macht wahrscheinlich auch nicht so viel Spaß wie das Beschreiben von Architektur.

In der Science-Fiction-Buchreihe „Murderbot“ von Martha Wells ist die Utopie ein unauffälliges Anhängsel der Handlung: Die Hauptfigur Murderbot ist zum Teil Mensch, zum Teil Maschine. Die Handlung spielt zum größten Teil im konzernbeherrschten Teil des Universums. Dort gelten solche Bots als bloße Geräte, mit denen Menschen machen können, was sie wollen. Der positive Gegenentwurf zu dieser Welt, die „Preservation Alliance“, enthält weder Baumhäuser noch Kristallgebäude. Preservation ist einfach nur ein System, in dem es Regeln gibt, nach denen auch ein Bot als Person behandelt werden muss. Viel mehr erfahren wir nicht über diese Welt. Und viel mehr muss man auch nicht wissen.
Meistens ist es anders, und die Schreibenden können der Versuchung nicht widerstehen, ihre Utopie mit einer schillernden Fassade auszustatten. Darüber vernachlässigen sie die weniger sichtbaren Aktivitäten, die zu dieser Utopie geführt haben und die ihr Wesen ausmachen. Das ist nicht nur im Roman so, sondern auch im Journalismus. Emily M. Bender – ja, genau die Computerlinguistik-Forscherin aus der vergangenen Kolumne – hat vor einem Jahr darüber geschrieben, wie wir beim Lesen von Berichterstattung über „Künstliche Intelligenz“ vermeiden können, uns von spektakulären Szenarien blenden zu lassen. (Falls Sie den Text nachlesen wollen: Eine Suche nach „Resist the Urge to be Impressed“ bringt Sie hin.) Es ist, sagt Bender, nicht nur sinnlos, darüber nachzudenken, wie wir „Künstlichen Intelligenzen“ die richtigen Werte beibringen können, sondern aktive Verschwendung von Zeit, in der wir über ganz andere Fragen nachdenken sollten. „Was wir brauchen, sind keine Science-Fiction-Angelegenheiten – sondern Regulierung, Mitspracherechte für die Allgemeinheit und Mitspracherechte für Arbeitskräfte.“
Ich weiß, das klingt mühsam. Niemand spürt diesen Makel schmerzlicher als ich, ich finde ja schon, dass „Aufstehen und in die Küche gehen und neuen Tee kochen“ mühsam klingt. Aber einfach nur diesen Gedanken akzeptieren, „Bessere Welten zeichnen sich durch bessere Regeln aus. Nicht durch besonders viele Baumhäuser, nicht durch besonders spektakuläre Technik.“: Das kann man auch im Sitzen tun.