Im Twitter-Gewitter

Soziale Medien wirken als Turbolader der politischen Debatte. Abgeordnete klagen über Aggressivität im Netz, viele fühlen sich von der Dauerkommunikation überfordert. Liegt die Lösung in einer neuen Enthaltsamkeit?
Was ist eigentlich passiert? Wenn man sich zurücklehnt, die Augen schließt, tief durchatmet, kann man sich die Frage stellen. Und all die anderen, die daraus folgen: Sind die Dinge, über die wir öffentlich diskutieren, wirklich relevant? Lohnen sich die Aufregung und Leidenschaft, mit der wir streiten – vor allem die im Internet? Und woher kommt all der Hass?
Gut drei Wochen ist das Jahr jetzt alt, und die ersten drei großen Empörungswellen sind bereits durch das Netz gerollt. #Habeck, #Kretzschmar, #NazisRaus: Jedes einzelne dieser Schlagwörter, in der Netzsprache Hashtags, steht für Meinung, Empörung, Streit, Hetze.
Der Anlass ist dabei fast schon egal. Ein missglücktes Video eines Parteichefs, eine etwas aus dem Zusammenhang gerissene Äußerung eines Ex-Handballers, eine ironische Äußerung einer ZDF-Journalistin. Schon ein kleiner Ausrutscher oder das, was eine ausreichend große Zahl an digitalen Schreihälsen dafür hält, reicht aus, um die Debatte einen, zwei oder gar drei Tage lang zu bestimmen. Vor allem im empörungseifrigen Netz, oft genug mittlerweile aber auch wenig später in den Zeitungen und an den Stammtischen.
Deutschland 2019 – willkommen in der Empörungsrepublik
Die Frage ist, was die permanente Aufregung mit dem politischen Diskurs macht. Mit der Gesellschaft. Und mit dem Publikum. Forscher der Uni Mannheim haben jüngst eine Studie vorgelegt, in der sie zu dem Ergebnis kommen, dass Internettrolle, also Hetzer im Netz, eine Gefahr für den politischen Diskurs darstellen. „Teilweise ist das Diskussionsklima bei Twitter regelrecht vergiftet“, warnt der Mannheimer Sozialforscher Yannis Theocharis.
Und das Gift kommt auch in der realen Gesellschaft an. Warum glaubt ein 20-jähriger Schüler aus dem hessischen Homberg, die privaten Daten von Hunderten Politikern ins Netz stellen zu müssen? Warum wird ein AfD-Politiker in Bremen niedergeschlagen? Warum glaubt der wiederum, den Angriff dramatisieren und im Netz mit dramatischen Fotos ausschlachten zu müssen?
Das Modell Habeck: Abschalten
Von den großen Hoffnungen, mit denen die sozialen Medien Mitte der 2000er-Jahre gestartet sind, ist nicht viel übrig. Direkter Austausch zwischen Regierenden und Regierten, unmittelbare Beteiligung der Bürger an der politischen Willensbildung, mehr Demokratie – darüber redet heute kaum noch jemand.
Die sozialen Medien sind kein Katalysator geworden, der die Politik besser und sauberer gemacht hätte. Eher haben sie die Funktion eines Turboladers übernommen: Sie sorgen für höheren Druck, schnelleres Tempo, heißere Temperaturen. Und das praktisch rund um die Uhr.
Inzwischen beschleicht immer mehr Menschen das Gefühl, dass da etwas aus dem Ruder gelaufen ist. Dass etwas kaputt geht. Und dass es deshalb an der Zeit ist innezuhalten.
Der Mann, der diese Debatte losgetreten hat, ist am vergangenen Dienstag in Ostdeutschland unterwegs. Robert Habeck besucht Gera, das Kulturzentrum Häselburg. Das Thema ist eigentlich die Zukunft der Arbeit, aber hier in Thüringen schwingt seit Neustem bei Robert Habeck auch immer das Thema Twitter mit.
In einem schnell aufgezeichneten und über soziale Netzwerke verbreiteten Video hatte Habeck Anfang des Jahres auf den anstehenden Landtagswahlkampf in Thüringen einstimmen wollen: „Wir versuchen, alles zu machen, damit Thüringen ein offenes, freies, liberales, demokratisches Land wird, ein ökologisches Land“, sagte Habeck. Wird. Es war das eine falsche Wort.
Ist Thüringen etwa kein demokratisches Land? Habeck erntete einen Shitstorm, einen Sturm digitaler Kritik. Und meldete sich prompt von Twitter und Facebook ab. Die sozialen Medien kehrten nur seine schlechten Seiten heraus, befand er.
Natürlich erntete er auch dafür einen Shitstorm. Und ganz von der Hand zu weisen ist der Vorwurf nicht, dass hier jemand ein Medium für seine persönlichen Fehler verantwortlich macht. Eine Sache allerdings hat Habeck erreicht: Er hat der Republik den Spiegel vorgehalten. Und er hat ein Experiment gestartet. Es heißt Digital Detox, digitale Entgiftung.
Funktioniert Politik auch, wenn man sie nicht auf allen verfügbaren Kommunikationskanälen präsentiert? Wenn man sie sogar ein Stück zurückdreht? Kann man Politik dann entschleunigen, sie vielleicht sogar besser machen? Die Frage steht nun im Raum, und Habeck ist nicht der Einzige, der sie stellt.
Auch Axel-Springer-Chef Mathias Döpfner ist nun hart mit Facebook, Twitter und Co. ins Gericht gegangen. Sie produzierten zu viel negative Energie und zu wenig Erkenntnis, befand der Verlagsmanager. Und er empfahl seinen Journalisten „allergrößte Zurückhaltung“, wenn nicht gar vollkommene Enthaltsamkeit beim Äußern eigener Positionen in sozialen Medien.
Dabei bleiben die Verlockungen natürlich groß: Jeder kann jederzeit alles sehen, verbreiten, kommentierten. Noch vor wenigen Jahren musste man den Computer hochfahren, heute reicht ein Griff zum Smartphone. Die beschleunigten Informationsflüsse führen bei vielen Menschen zur Überforderung. Zeit zum Nachdenken bleibt kaum. Zumal soziale Medien permanent eine Reaktion einfordern. Teilen oder weiterscrollen? Daumen hoch oder Daumen runter? In Sekundenschnelle muss die Meinung zu einem komplexen politischen Sachverhalt gebildet sein. Das führt fast schon zwangsläufig zu kognitiver Überlastung.
Vielleicht ist das ja eine Erklärung für all die Aggressivität. Man kennt das von kleinen Kindern: Wenn die Reize sie überfluten, reagieren sie mit Wut, schreien, schlagen schlimmstenfalls sogar um sich. Verhaltensweisen, wie sie sich bei Twitter täglich zigtausendfach beobachten lassen. Rationale Argumente weichen dem Gefühlsausbruch. Der kühle Kopf wird von hochkochenden Emotionen besiegt.
Der Superlativ wird belohnt
Und: Twitter etwa bewertet nicht die politische Bedeutung einer Meldung. In den Timelines wird nicht oben platziert, was die Nutzer unbedingt wissen sollten. Was zählt, ist die reine Aufmerksamkeit. Twitter befördert die Zuspitzung. Der Superlativ wird belohnt. Manch einer nennt Twitter deshalb den digitalen Stammtisch. Aber stimmt dieses Bild eigentlich?
Im Backbord in Berlin-Kreuzberg kann man ihn noch besichtigen, den analogen Stammtisch. Eine klassische Eckkneipe, die sich gegen den Zeitgeist stemmt. Rauchen, würfeln, Fußball gucken – und aus den Lautsprechern Oldies aus den 70ern.
Wer hier sein Feierabendbier trinkt, kennt sich seit Jahren: Klempner, Verwaltungsangestellte, Rentner – am Tresen vereint mit dem emeritierten Professor für Slavische Literatur- und Kulturwissenschaft und dem Hartz-IV-Empfänger.
Twitter? Jede Minute eine neue Nachricht? „Da wirst du ja kirre im Kopf“, sagt Billy, der Kiez-Handwerker. „Und ob der Habeck gerade einen Shitstorm hat, ist mir so egal wie der Sack Reis, der in China umfällt.“ Die Leute hier haben andere Sorgen: Mieterhöhungen, die Mutter, die in Pflege muss – oder wie es mit der Hertha weitergeht in der Fußball-Bundesliga.
Was nicht heißt, dass sie im Backbord nicht auch über Politik reden: über den Brexit zum Beispiel („Die spinnen doch, die Engländer!“). Oder die Flüchtlinge („Eigentlich arme Schweine, aber auch die müssen sich doch an unsere Regeln halten“). Am meisten aber über den Dieselskandal: „Die Zeche zahlt doch wieder der kleine Mann!“, schimpft Busfahrer Frank H., der privat einen zwölf Jahre alten Golf-Diesel fährt und kein Geld für ein neues Auto hat. „Aber für den interessiert sich natürlich kein Twitter.“
Vom Netz ins Parlament
Die Kritik hört man oft. Twitter, das sei doch eine Parallelwelt, eine Blase. Wahr ist, es sind viele Politiker präsent, von den 709 Abgeordneten des Deutschen Bundestages mehr als 500. Und natürlich auch viele Journalisten. Sie nutzen Twitter als Informationsquelle, als Inspiration oder aber auch als Marketinginstrument zur Verbreitung ihrer Beiträge. Die Gefahr, dass eine Debatte im Netz sich von der Lebensrealität der meisten Menschen im Land abkoppelt, ist real.
Soziale Medien zu ignorieren ist allerdings auch keine Lösung. Denn sie schaffen Realitäten und das mitunter sehr schnell. Das prominenteste Beispiel ist US-Präsident Donald Trump. Fast jeder seiner Tweets ist für eine Schlagzeile gut, manche haben auch ernsthafte internationale Verwicklungen oder abstürzende Börsenkurse zur Folge. Man kann darüber denken, was man will, nur ignorieren kann man es nicht. Die Deutsche Presse-Agentur hat sogar eine eigene Schicht eingerichtet, bei der ein Journalist täglich verfolgt, was Trump bei Twitter so von sich gibt. Intern heißt sie die „Er-ist-wach-Schicht“.
Auch im deutschsprachigen Raum haben Netzdebatten schon sehr reale politische Folgen gehabt. Jüngstes Beispiel ist der Streit um die Reform des Paragrafen 219a, der das Werbeverbot für Abtreibungen regelt. Am 29. Oktober 2017 taucht das Thema zum ersten Mal bei Twitter auf, zwei Wochen später explodiert die Debatte im Netz. Frauenrechtlerinnen auf der einen, Abtreibungsgegner auf der anderen Seite.
Das Thema Schwangerschaftsabbrüche ist eigentlich viel zu kompliziert für eine Debatte auf 280 Zeichen. Nur die Maximalpositionen passen in einen Tweet: Paragraf streichen oder Paragraf nicht antasten. Es ist kein Zufall, dass SPD und Union mit genau diesen Maximalpositionen in ihre Verhandlungen gegangen sind. Twitter und die Polarisierung im Netz haben gewirkt. Wie also umgehen mit den Risiken der sozialen Medien? Ist das Modell Habeck eine Lösung?
Es ist zu früh, diese Frage zu beantworten. Aber Habeck ist inzwischen guter Dinge. Für die Reise nach Thüringen habe er sich zum Beispiel besser vorbereiten können als früher, in Zeiten des hektischen Twitterns und Postens. „Die Momente, in denen ich früher zum Telefon gegriffen und die App gestartet hätte, nutze ich jetzt, um Hintergründe zu anstehenden Terminen zu lesen. Das ist ein Gewinn“, sagt Habeck. Andere glauben nicht daran, dass sein Modell Schule macht. „Wenn ich bei Hausbesuchen oder auf Infoständen bin, bekomme ich auch oft Kritik ab. Trotzdem würde ich nie aufhören, an den Haustüren und Marktplätzen zu sein“, hat SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil dem Grünen-Chef geschrieben – per Twitter.
Anders als Habeck verfolgt Klingbeil eher die Strategie der Professionalisierung. Als das politische Berlin vergangenen Donnerstag den 100. Jahrestag des Frauenwahlrechts feiert, will der SPD-Generalsekretär eine Twitter-Botschaft dazu rausschicken. Schon am Vortag hat er mit seinem Team darüber gesprochen. Was genau und wann genau er es schreibt, dazu gibt es am Donnerstagmorgen aber noch keinen Plan. „Ein bisschen spontan muss man bei Social Media bleiben“, sagt Klingbeil. „Sonst wirkt es irgendwann künstlich.“
„Die Aggressivität ist groß“
Es gibt eine Gedenkveranstaltung im Bundestag, die SPD-Parlamentarierinnen erscheinen in weißen Oberteilen, als Reminiszenz an die ersten Frauen in der Weimarer Nationalversammlung, die weiße Blusen trugen. Als SPD-Kabinettsfrauen im Plenarsaal den Moment im Bild festhalten wollen, wittert Klingbeil seine Chance. „Ich will auch ein Foto mit euch“, sagt er und zückt das Handy. Es entsteht ein Selfie: der verschmitzt lächelnde Generalsekretär in der Ecke, die strahlenden SPD-Ministerinnen im Zentrum. Klingbeil tippt jetzt eine Nachricht in sein Telefon. „Im Kampf für das Frauenwahlrecht standen vor allem Sozialdemokratinnen an der Spitze – das macht mich stolz. Aber es gibt noch viel zu tun: Wir wollen 50:50 im Parlament.“ Er schickt die Nachricht an sein Team. Wenn die Zeit es zulässt, setzt er auf ein Vier-Augen-Prinzip. Um 11.46 Uhr sendet er Tweet und Foto in die Welt.
Drei Stunden später sitzt Klingbeil in einem Restaurant des Bundestags und geht die Antworten durch. „Ehemalige Arbeiterpartei“, kommentiert ein Nutzer. „Lars, wieso gehst du nicht mit gutem Beispiel voran und stellst dein Mandat einer SPD-Frau zur Verfügung??“, fragt ein anderer. Ein dritter schreibt: „Ihr seid krank, Frauen sind und bleiben das schwache Geschlecht und daran wird sich nichts ändern.“
Klingbeil hat genug gesehen, er legt sein Handy jetzt beiseite. „Twitter ist schon krass“, sagt er. „Die Aggressivität ist groß.“ Er ist deshalb in letzter Zeit häufiger auf der Foto- und Videoplattform Instagram unterwegs. „Dort ist es harmonischer“, sagt Klingbeil.