Vier Oscars für „Im Westen nichts Neues“ bei den internationalsten Academy Awards der Geschichte
Gesunde Weltflucht und aufklärerischer Realismus: „Everything Everywhere All at Once“ und der deutsche Beitrag „Im Westen nichts Neues“ triumphieren wie erwartet bei den Oscars.
Frankfurt/Los Angeles - Das hat Hollywood mit seinen eingefahrenen Hierarchien auch noch nicht so oft erlebt: Einen Regisseur, der „seinem“ Produzenten dankt und nicht umgekehrt. Es ist die Besonderheit der Kategorie „Bester internationaler Film“, dass die Oscars nicht – wie beim „Besten Film“ – den Verantwortlichen für Produktion, sondern für die Regie ausgehändigt werden.
Edward Berger, der Regisseur von „Im Westen nichts Neues“, dankte auch „seinem“ Kameramann James Friend, der zu diesem Zeitpunkt bereits einen Oscar bekommen hatte, und „seinem“ Ausstattungsteam, das noch gewinnen sollte. Dieser Preis – gegen die Konkurrenz der Milliardenproduktion „Avatar“ – bewies endgültig, welche Wertschätzung die Produktionsqualitäten dieses deutschen Films in Hollywood gewonnen haben. Als dann gleich darauf Komponist Volker Bertelmann für seinen gewagt-experimentellen Score ausgezeichnet wurde – gegen Legenden seines Fachs wie John Williams und Carter Burwell – war der Triumph komplett. Gerade diese Kategorie wurde in der Vergangenheit von den stimmberechtigten amerikanischen Kollegen und Kolleginnen lange gegen ausländische Bewerbungen verteidigt. Ennio Morricone, der größte Filmkomponist seiner Generation, musste 88 Jahre werden, um zu erleben, was Bertelmann – als Pianist besser bekannt unter seinem Künstlernamen Hauschka – nun erleben darf. Wie jeder der für diesen Film Ausgezeichneten wird er sich um den Fortgang seiner internationalen Karriere nicht mehr sorgen müssen. Dazu kann man allen nur von Herzen gratulieren.

Erst zum vierten Mal gewann ein deutscher Film als „Bester nicht englischsprachiger Film“. Bernhard Wickis Antikriegsfilm „Die Brücke“ wurde 1959 glücklos nominiert, ebenso 1990 Michael Verhoevens Plädoyer für zivilen Ungehorsam, „Das schreckliche Mädchen“. Ihre Originalität besitzt „Im Westen nichts Neues“, diese Effekt-getriebene Materialschlacht auf Kosten der literarischen Vorlage, trotz großer Einzelleistungen nicht.
Aber vielleicht suchte Edward Berger auch gar nicht nach Originalität, wenn er, wie er immer wieder betonte, die Sinnlosigkeit des Sterbens auf die Leinwand bringen wollte. Im Angesicht des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine wurde das weltweit verstanden – und gerade aus deutscher Perspektive als besonders glaubwürdig empfunden.
Internationalste Oscar-Verleihung aller Zeiten
Es war die internationalste Oscar-Verleihung aller Zeiten. Amerikanische Preisträgerinnen und Preisträger waren die Ausnahme – wie Hauptdarsteller Brendan Fraser, der als 300-Kilo-Mann in „The Whale“ die radikalste Verwandlung vollführte. Der siebenfache Gewinner „Everything Everywhere All at Once“, der auch als „Bester Film“ gewann, ist zwar eine amerikanische Produktion, doch vor allem eine Verbeugung vor der überbordenden Fantasie des Hongkong-Kinos vor der Rückgabe der britischen Kronkolonie an China. Die Auszeichnung für Hauptdarstellerin Michelle Yeoh, die mit ihrer komplexen Mutterrolle gleichsam den unbegrenzten Möglichkeiten der menschlichen Natur Ausdruck verleiht, schien zugleich das Lebenswerk der Martial-Arts-Ikone zu würdigen.

Ebenso glich der Preis für die Bollywood-Komponisten M.M. Keeravaani und Chandrabose einer späten Anerkennung der produktivsten Filmindustrie der Erde. Ihr ausgezeichneter Song aus dem Film „RRR“ erlebte zuvor eine mitreißend choreografierte Darbietung. Passenderweise wurde die Dankesrede gesungen vorgetragen – zur Melodie eines „Carpenters“-Songs.
Mehr als die Moderationen von Komiker Jimmy Kimmel waren die musikalischen Performances die Höhepunkte der Live-Veranstaltung: Lady Gaga, Rihanna und besonders David Byrne – im Trio mit Mitski und Son Lux beim Beitrag aus „Everything ...“ – berührten mit intimen Darbietungen. Es waren leise Oscars, wenige Worte waren nötig, um ihre politische Ebene herauszustellen.
Der Dokumentarfilmpreis, bei dem sich ein gleichnamiges Porträt des russischen Oppositionellen Navalny vor dem Favoriten „All the Beauty and the Bloodshed“ über die Künstlerin Nan Goldin durchsetzte, sprach Bände: Die alte Frage nach der Legitimität von künstlerischer Weltflucht in Zeiten des Krieges fand eine salomonische Antwort, wenn sich die meisten Preise auf zwei Filme verteilten: „Im Westen nichts Neues“ stand für das realistische Kino als Spiegel der Wirklichkeit – und betonte als Neuverfilmung eines Filmklassikers zugleich Geschichtsbewusstsein. „Everything Everywhere All at Once“ stand dagegen fast symbolhaft für die reflektierte Weltflucht, ermöglicht durch die Grenzenlosigkeit der Fantasie – erzählt weit entfernt von westlichen Konventionen.
Eine fast enttäuschend unaufgeregte Oscar-Verleihung
So viel höherer Sinn bei einer Preisverleihung bedeutet natürlich leider auch: schlechte Zeiten für dumme Witze. Jimmy Kimmel nutzte dafür in weiser Voraussicht die ersten Minuten. „Wenn irgendjemand während der Show gewalttätig wird“, begrüßte er sein Publikum mit Blick auf Will Simith’ Ohrfeigenattacke vom vergangenen Jahr, „bekommt er den Oscar als bester Hauptdarsteller und die Erlaubnis für eine 19-minütige Rede.“ Mit Blick auf das Publikum fügte er hinzu: „Wenn irgendetwas passiert, tun Sie einfach das selbe wie letztes Jahr. Gar nichts. Einfach da sitzen bleiben und nichts tun. Vielleicht sogar noch dem Angreifer eine Umarmung spendieren.“
Nichts von all dem passierte. So war das Letzte, was man nach einer fast enttäuschend unaufgeregten Oscar-Verleihung von Kimmel sah, das Eintragen der Veranstaltung in eine Statistik: als erste Ausgabe ohne jede Entgleisung. Welch ein Erdbeben mag sie auf der anderen Seite des Globus ausgelöst haben – in einem weit entfernten Filmland, das erstmals einen Mehrfachgewinner zu den Oscars beitragen konnte. (Daniel Kothenschulte)
- Bester Film: „Everything Everywhere All at Once“
- Bester internationaler Film: „Im Westen nichts Neues“ (Deutschland)
- Regie: Daniel Kwan und Daniel Scheinert („Everything Everywhere All at Once“)
- Hauptdarstellerin: Michelle Yeoh („Everything Everywhere All at Once“)
- Hauptdarsteller: Brendan Fraser („The Whale“)
- Nebendarstellerin: Jamie Lee Curtis („Everything Everywhere All at Once“)
- Nebendarsteller: Ke Huy Quan („Everything Everywhere All at Once“)
- Kamera: James Friend („Im Westens nichts Neues“)
- Original-Drehbuch: Daniel Kwan und Daniel Scheinert („Everything Everywhere All at Once“)
- Adaptiertes Drehbuch: Sarah Polley („Die Aussprache“)
- Schnitt: Paul Rogers („Everything Everywhere All at Once“)
- Filmmusik: Volker Bertelmann alias Hauschka („Im Westen nichts Neues“)
- Filmsong: „Naatu Naatu“ („RRR“)
- Produktionsdesign: Christian M. Goldbeck und Ernestine Hipper („Im Westen nichts Neues“)
- Ton/Sound: Mark Weingarten, James H. Mather, Al Nelson, Chris Burdon und Mark Taylor („Top Gun: Maverick“)
- Visuelle Effekte: Joe Letteri, Richard Baneham, Eric Saindon und Daniel Barrett („Avatar: The Way of Water“)
- Animationsfilm: „Guillermo del Toro‘s Pinocchio“
- Animations-Kurzfilm: „The Boy, The Mole, The Fox and the Horse“
- Dokumentarfilm: „Nawalny“
- Dokumentar-Kurzfilm: „Die Elefantenflüsterer“ (The Elephant Whisperers)
- Make-up/Frisur: Adrien Morot, Judy Chin und Annemarie Bradley („The Whale“)
- Kostümdesign: Ruth Carter („Black Panther: Wakanda Forever“)
- Kurzfilm: „An Irish Goodbye“ (dpa)