Venedig wird zum US-Festival

Venedig wird zu einem Festival des US-Films ? und lässt Oscar-Anwärter in Serie auflaufen.
Man kann Darren Aronofsky lieben oder hassen, mit einem abwägenden Dazwischen wäre Hollywoods notorischster Bilderstürmer wohl selber kaum zufrieden, das fände er vermutlich langweilig. So wie es in seinem surrealen Beziehungs- und Künstlerdrama „mother!“ zwar von Details wimmelt wie in einem Boschgemälde – aber nicht gerade von Zwischentönen. Entsprechend viel Augenfutter bietet er damit Freund und Feind.
Venedig jedenfalls kann sich freuen: Andere Festivals lassen nach der Mitte ihre halbzahmen Skandalkätzchen aus dem Sack, Cannes zum Beispiel versucht es gern mal mit Erotik. Hier aber kommt ein echter Knüppel aus dem Sack gesprungen, selten hörte man am Ende einer Pressevorführung so viele Buhs und Bravos und noch seltener hörte man sie in derartiger Lautstärke.
Leicht hat man schon zu viel erzählt, denn die erzählerische Substanz passt in vier Zeilen, von denen die letzte schon die Pointe wäre, die in keine Filmkritik gehört. Es ist die alte Geschichte von ungebetenen Gästen in einem einsamen Haus, verbunden mit jener vom Dichter mit der Schreibblockade. Dazu kommt das bekannte Thema von der jungen Muse, die ihn abgöttisch liebt und einem gemeinsamen Kind entgegenfiebert – und als dann die erhoffte Schwangerschaft eintritt, alle Zeichen ignoriert, dass es dabei längst mit dem Teufel zugehen könnte.
Über jedes dieser Themen hat Roman Polanski mindestens einen Film gedreht, Aronofsky rührt sie nun alle zusammen, und dass wir bis zum Ende zuschauen, hat dann doch mit seinem eigenen Stil zu tun, seiner hier sehr barock aufgetragenen Idee von magischem Realismus.
Er schreibt nichts, sie repariert derweil das Haus
Jennifer Lawrence und Javier Bardem spielen das ungleiche Paar, das sich im ehemaligen Familiensitz des gefeierten Dichters einnistet. Die Arbeit ist schnell verteilt: Er schreibt nichts, sie streicht und repariert derweil das Haus. Den Enthusiasmus dieser Hausfrau im Wortsinn kann man derweil nur bewundern, auch wenn die Anstrengung Lawrences Stirn in bekannte Falten wirft: Man muss schon die „Hunger Games“ überlebt haben, um dieser Bruchbude zu trotzen. Ebenso gut hätte man in die Psycho-Kulisse im Universal-Studio-Park einziehen können. Doch bevor noch die Dielen zu leben beginnen, was sie natürlich tun werden, klingeln ausgerechnet Michelle Pfeiffer und Ed Harris an der Tür, um die Gastfreundschaft der beiden zu testen.
Das Ehepaar outet sich als Fans, was dem eitlen Schreiber gut gefällt. Und als kurz darauf noch ihre asozialen Söhne eintrudeln, von denen der eine den anderen grußlos über das Erbe des todkranken Vaters erschlägt, ist der Dichter aus dem Häuschen: Dies sei doch das wahre Leben, freut er sich und badet förmlich in der Inspiration.
Nachdem eine ähnlich ungesittete Trauergesellschaft das Haus verwüstet hat, meldet sich seine verlorene Potenz zurück: Erst in der Hose, dann auf dem Papier. Ebenso irreal ist die kurze Idylle, in die Aronofsky schwenkt. Die Tinte ist kaum getrocknet, da ist der neue Gedichtband schon ein Bestseller. Parallel dazu wächst der Mutterbauch. Und während wir uns noch fragen, wie es wirklich möglich sein kann, heute noch eine Frauenfigur zu entwerfen, die allein durch die Bewunderung für ihren Mann und ihren Kinderwunsch definiert ist, geht ihr Martyrium von vorne los.
Nun ist es die fanatisierte Leserschaft, die wie eine biblische Plage über das Haus und seine Bewohner einbricht. Das Ganze könnte man durchaus lustig finden – ganz ernst gemeint kann es jedenfalls hoffentlich nicht sein. Man wähnt sich in Polanskis „Tanz der Vampire“ – nur dass dem Dichter selbst diese ins Kannibalische umschlagende Verehrung noch gefällt. Endlich ist Aronofsky ganz in seinem Element: Zu Hunderten wimmelt der ungebetene Mob, schließlich geht es zu wie im Bürgerkrieg. Ist diese Apokalypse nur eine innere Vision einer psychisch Kranken wie in Polanskis „Ekel“? Oder fügen sich die okkulten Zeichen zu einem zweiten „Rosemaries Baby“? Der eigentliche Kannibale ist derweil der Regisseur, der diese feinsinnigen Klassiker mit allem Blockbuster-Aufwand förmlich zermalmt. Und als eine hemmungslos antiquierten Künstler-Musen-Geschichte wieder ausspuckt.
Fast möchte man diese Mostra in ein Festival des amerikanischen Films umtaufen. Robert Redford und Jane Fonda enttäuschten außer Konkurrenz als spätes Liebespaar in „Our Souls at Night“ – und ließen sich sichtlich von der Produktionsfirma Netflix knebeln, das heimische Publikum nicht mit politischen Statements zu verschrecken. Auf eine Äußerung in einem FR-Interview vor 19 Jahren angesprochen, der amerikanische Traum sei eine Lüge, antwortete Redford einsilbig: „Da müssen Sie wohl das amerikanische Volk fragen“. Dabei hatte das Festival den beiden Stars ihre Goldenen Ehrenlöwen auch mit Hinweis auf ihre politischen Aktivitäten zugesprochen.
Glanzvoller zeigte sich das US-Qualitätskino mit zwei schwarzen Komödien (oder ironischen Tragödien?) aus dem Umfeld der Coen-Brüder. „Suburbicon“ hat George Clooney gemeinsam mit den beiden geschrieben und beinahe genauso gut in Szene gesetzt. In erlesenen Bildern führt er in eine 50er-Jahre-Kleinstadt, deren Pastellfarben die Schwärze des Geschehens nicht zu überdecken vermögen: Matt Damon spielt einen scheinheiligen Familienvater, der seine Frau von Einbrechern ermorden lässt. Komponist Alexandre Desplat greift tief in die Dissonanzen-Kiste von Hitchcocks Bernard Herrmann, wenn er sich der Versicherungsbetrüger in seinem eigenen schlechten Plan verwickelt. Und man zittert um sein Kind, das zu viel weiß.
Nicht ganz so spektakulär, doch ungleich feiner, insbesondere im Dialog ist das pechschwarze Gegenstück im Wettbewerb: „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“. Frances McDormand verfeinert abermals den ausdrucksstarken Minimalismus, den sie gemeinsam mit Ehemann Joel Coen in „Fargo“ entwickelte. Als verbitterte Mutter eines Mordopfers kratzt sie den Schorf von der kollektiven Wunde, die der ungelöste Fall in der Kleinstadt hinterlassen hat: Auf drei großen Plakatwänden beschuldigt sie den von Woody Harrelson kaum minder asketisch gespielten Polizeichef der Untätigkeit. Dass dieser schwer krebskrank ist, lässt sie ihr Anliegen noch dringlicher erscheinen. Regisseur und Autor Martin McDonagh lässt die unterdrückte Emotionalität seiner Hauptfiguren mit einem vor Leid förmlich berstenden Umfeld kontrastieren – und lässt die Kontrahenten so zu Seelenverwandten werden. Alle Zwischentöne, aller Feinsinn, alle wirkliche dramatische Ironie, die Aronofsky fehlt – hier kann man sie bewundern.