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Ukrainische Filmakademie: Keine Zeit für Zwischentöne

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Von: Daniel Kothenschulte

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Die „Potemkin Stairs“ von Odessa.
Die „Potemkin Stairs“ von Odessa. © AFP

Die ukrainische Filmakademie Sergei Loznitsa aus, ihren berühmtesten Landsmann

In Friedenszeiten ist die Freitreppe von Odessa ein Wallfahrtsort für Cinephile. Wer sie mit der Erinnerung an Sergei M. Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“ betritt, vergleicht nicht nur einen filmischen Schauplatz mit der Realität. Man meint förmlich, zwischen die Einstellungen zu treten, die in Eisensteins Montage die Idee zum Zeitbild machen. Erst auf den zweiten Blick bemerkt man vielleicht, welch spektakuläre Illusion die Architektur selbst ist mit ihren 192 sich nach oben verkürzenden Stufen: ein Theatereffekt für Tiefenwirkung, den sich auch gerne das Kino zunutze macht. Obwohl diese Treppe über 80 Jahre älter ist als Eisensteins Film, hat sich international für sie der Name „Potemkin Stairs“ eingebürgert. Nur in Odessa erinnert keine Gedenktafel an ihren legendären Filmauftritt.

Offensichtlich hat die Stadtverwaltung dort wenig Interesse daran, sich mit dem Ruhm eines sowjetischen Filmklassikers zu schmücken; noch dazu eines Propagandafilms für den Kommunismus. Als ich 2012 nach Odessa kam, war ich überrascht, dort keinen Hinweis auf einen der größten Filmkünstler aller Zeiten zu finden. Die Mitarbeiterin eines Kulturinstituts erklärte mir dies damit, dass man in diesem Teil der Ukraine einen radikalen Bruch mit russisch-sowjetischen Einflüssen vollzogen habe. Das betraf offensichtlich auch Eisenstein, einen Juden aus Riga im heutigen Lettland, der nur mit sehr viel Glück von den „Säuberungen“ Stalins verschont blieb.

Nun wurde auch der Name des bekanntesten lebenden ukrainischen Filmemachers aus einer Ruhmesliste gestrichen: Die ukrainische Filmakademie gab seinen Ausschluss bekannt, wie das Filmfestival von Odessa auf seiner Facebook-Seite mitteilte. Die Begründung ist ausgerechnet sein Kosmopolitismus. „Der Regisseur Sergei Loznitsa hat wiederholt erklärt, dass er sich für einen Weltbürger hält. Aber jetzt, wenn die Ukraine mit aller Stärke ihre Unabhängigkeit verteidigen wird, sollte die Schlüsselrhetorik eines jeden Ukrainers seine nationale Identität sein. Und da kann es keine Kompromisse oder Zwischentöne geben.“

Des Weiteren lastet die Akademie Loznitsa an, dass einer seiner Filme gemeinsam mit russischen Filmen bei einem lokalen Festival im französischen Nantes gezeigt wird. „Die ukranische Filmakademie hat die Welt bereits aufgefordert, russisches Kino zu boykottieren. Jetzt fordern wir die Welt auf, ukrainische und russische Kulturen voneinander zu trennen.“

Tatsächlich hatte sich Loznitsa dagegen ausgesprochen, alle russischen Filmemacher und Filmemacherinnen zu boykottieren – jene, die sich öffentlich gegen Putin und das Regime stellten, solle man unterstützen. Bereits am 27. Februar hatte er in einem Statement der Ukraine den Sieg prophezeit und erklärt: „Der Krieg, den Russland gegen die Ukraine entfesselt hat, ist ein wahnsinniger und suizidaler Akt, der zum unausweichlichen Kollaps des kriminellen russischen Regimes führen wird.“

Das Gift des Nationalismus

Nun ist Nationalismus noch immer das Gift hinter allen Kriegen gewesen; ihn ausgerechnet von Künstlerinnen und Künstlern einzufordern, ist beunruhigend. Vielleicht war der erfolgsverwöhnte, hauptsächlich in Deutschland lebende Loznitsa manchen Kollegen ohnehin ein Dorn im Auge. Sein Ausschluss schmälert seinen Rang natürlich nicht.

Tatsächlich war er vor kurzem erst aus Protest aus der Europäischen Filmakademie ausgetreten. Diese hatte nach Kriegsbeginn gezögert, Putin zu kritisieren, und stattdessen versichert, mit ihren ukrainischen Mitgliedern in Verbindung zu stehen. „Tretet lieber mit eurem Gewissen in Verbindung“, ermahnte er die in Berlin ansässige Institution.

Die Entscheidung der ukrainischen Filmakademie offenbart ein problematisches Demokratieverständnis. Allerdings wurde auch Präsident Selenskyj bereits Zensur vorgeworfen. Bereits im Februar ließ er zwei prorussische Nachrichtensender in der Ukraine per Dekret blockieren. „Die Meinungsfreiheit endet, wenn in die ukrainische Souveränität eingegriffen wird“, begründete er die Entscheidung.

Für Loznitsas Kunst sind die Zwischentöne entscheidend. Viele seiner Dokumentarfilme, besonders eindrucksvoll „Maidan“ (2014), führen die filmische Beobachtung an jenen Punkt, an dem sich das Zufällige schon allein durch die Ausdauer des Betrachtens zum historischen Tableau verdichtet. Seine Spielfilme nehmen gern dieses Stilmittel der langen Einstellungen auf und lenken dabei den Zufall noch ein Stückchen weiter – in die Richtung eines Realismus des Absurden. Das verbindet ihn mit dem wohl bedeutendsten Filmemacher, der in der Ukraine wirkte, Sergei Parajanov, dem es in den Sechzigerjahren gelungen war, das Diktat des sozialistischen Realismus gegen einen ganz eigenen Stil zu ersetzen, eine Art folkloristischen Surrealismus.

In „Donbass“ (2018) vertraute Loznitsa auf diese oft von ihm erprobten, aber keineswegs unfehlbaren Methoden. Man glaubte gern, dass der Ukraine-Konflikt im Schatten des Desinteresses der Weltöffentlichkeit genug Kafkaeskes hervorbrachte, um die 13 Szenen seines Films zu inspirieren. Lose verbundene, tableauxhafte Sequenzen führen in leere Winterlandschaften, wo uniformierte Eindringlinge überraschend wenig Eindruck auf eine Landbevölkerung machen, die genug mit der täglichen Korruption zu tun hat.

Der Ton ist satirisch, aber nicht immer humorvoll; leicht irreal, aber nicht um Poesie bemüht; manchmal grausam, aber nie erschreckend. Immer wieder staunt man, mit welchem Aufwand diese bitteren Pointen vorbereitet werden: etwa jene Szene, in der eine Frau in einer Stadtratssitzung einen Eimer Fäkalien über einem Mann entleert, den sie für negative Berichterstattung in der Lokalzeitung verantwortlich macht. Wenn sich in einer Szene ein Lynchmob auf einen prorussischen Kämpfer stürzt und ihn an einen Pfahl fesselt, denkt man unwillkürlich an die noch viel schrecklicheren Ausschreitungen in Odessa.

Symbolträchtiges Odessa

In Putins Kriegsrhetorik machen sie Odessa zu einem symbolträchtigen Ort. Am 2. Mai 2014 starben dort 48 Menschen bei einem Angriff auf ein Zeltlager prorussischer Aktivisten und dem Brandanschlag auf das Gewerkschaftshaus, in das sie geflüchtet waren; nie wurden die Verbrechen aufgeklärt. Vor Putins mörderischem Angriffskrieg war es das folgenreichste Ereignis außerhalb der Kampfhandlungen des Krieges in der Ukraine, der seit Februar 2014 andauert.

Die aktuellen Ereignisse lassen befürchten, dass es auch auf ukrainischer Seite schwieriger werden wird, an unabhängige Informationen zu gelangen. Zudem haben die Kämpfe die Sende-Infrastruktur beschädigt. Auf Bitten der Ukraine unterstützen die Sender der Europäischen Rundfunkunion, darunter auch ARD und ZDF, den dortigen öffentlich-rechtlichen Rundfunk mit technischen Hilfslieferungen.

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