Endlich Tiefgang im Krimi

Die belgisch-deutsche Krimiserie „Undercover“ zeigt den unzähligen deutschen Krimiformaten, was ihnen fehlt: Tiefgang, Moral und nachvollziehbare Figuren.
Die absurdeste Eigenschaft des deutschen Fernsehmarktes (der an absurden Eigenschaften nun wahrlich nicht arm ist), ist das Missverständnis direkt in seinem Herzen: beim Krimi. Krimi-Formate machen gefühlt mehr als die Hälfte der hiesigen Fernsehproduktionen aus – und doch haben die Deutschen nie so recht verstanden, was dieses Genre eigentlich bedeutet.
Der Krimi als historische Form, gerade in dunklen Zeiten wie Wirtschaftskrisen, Nachkriegszeit oder Kriminalitätsanstieg, ist eigentlich dafür da, die Schattenseite der Menschheit zu zeigen, die unfreiwillig Ausgestoßenen oder absichtlich Ausgestiegenen, die den gesellschaftlichen Vertrag gekündigt habe und ihre eigene Subkultur aus Anarchie und Gesetzlosigkeit errichten.
Die Frage dahinter war immer: Wie lebt man jenseits der gesetzlichen und gesellschaftlichen Grenzen? Die Verbrecher und Detektive mussten in diese Schattenwelt eintreten und alle Regeln fahren lassen – denn erst hier zeigte sich, ob der Mensch in seinem Innersten eine Bestie oder ein Engel ist. Und das hat nur sehr selten etwas damit zu tun, auf welcher Seite des Gesetzes man in der normalen Welt steht.
Deutscher Krimi hält sich fern von der Schattenwelt des Täters - „Undercover“ taucht ein
Aber der deutsche Fernsehzuschauer, mit seinem ehrfürchtigen Grundvertrauen in Obrigkeitsfiguren wie Ärzte, Kapitäne und Polizisten, hatte nie wirklich ein Interesse an dieser Narrative. „Krimi“ hierzulande heißt: Am Anfang liegt eine Leiche rum, am Ende wird der Mörder festgenommen, und der Status Quo ist wieder hergestellt. Hauptfigur ist nicht der Verbrecher, sondern der Kommissar, der vielleicht mal Ehesorgen oder ein Alkoholproblem hat, aber niemals auch nur in die Nähe der Schattenwelt des Täters kommt. Dieser wiederum wird erst kurz vor Schluss auch nur offenbart, so dass man keine Gelegenheit hat, seine vielleicht unbequeme Erfahrung zu sehen. Es geht nicht darum, die Gesetzlosigkeit und die Menschen, die darin leben, zu erforschen oder sich nach ihrem Innersten zu fragen. Es geht darum, die einzelnen gesetzlosen Menschen von den gesetzestreuen Bürgern zu isolieren als wäre das eine angeborene, unumkehrbare Unterscheidung, die genau so sauber und oberflächlich zu machen ist.
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Nun wäre es übertrieben zu sagen, dass dieses ewig wiederkehrende Modell langsam selbst der überalterten deutschen Zuschauerschaft zu bieder und dröge werden würde – die Episoden-Krimi-Herrschaft im deutschen TV bleibt ungebrochen. Aber es gibt doch Bewegungen in den Randbereichen, vor allem angesichts internationaler Krimi-Narrative wie „Breaking Bad“, “Die Sopranos“ oder „Ozark“, die die Grenzen ganz auflösen und die ganze Welt als Schattenreich der Gesetzlosigkeit zeigen und die im Streaming-Bereich die herkömmlichen Sender sehr staubig und schal aussehen lassen. Es ist also kein Wunder, und auch beileibe nicht das erste Mal, dass deutsche Sender die Expertise von europäischen Nachbarländern suchen, die im Serien- und im Krimibereich weiter sind, namentlich Dänemark und Belgien.

„Undercover“ ist nur die neueste „Koproduktion“, die im Prinzip aus deutschem Sendergeld und belgischer Kreativität zusammengebastelt wurde – natürlich mit belgischen Schauspielern und in flämischer Sprache. Hinter den Kulissen wartet denn auch die geballte Erfahrung: Showrunner Nico Moolenaar hat aus seine früheren Serien seine Stamm-Autoren Bart Uytdenhouwen und Piet Matthys mitgebracht, Regie führt Frank Devos, der bereits die ähnlich aufgeteilte ZDF-Koproduktion „Sylvia's Cats“ inszenierte.
„Undercover“ fehlt ein Bösewicht vom Schlage Tony Soprano oder Walter White
Das Ergebnis kommt nicht an die Ambivalenz amerikanischer Krimiserien heran, dazu fehlt genau der Bösewicht, der uns durch seine nachvollziehbare Menschlichkeit fesselt, sei es ein Al Swearengen, ein Stringer Bell, ein Walter White oder ein Tony Soprano. Der hier angepeilte niederländische Drogenboss Ferry Bouman ist eher ein jähzorniger, prolliger Gangster-Schläger im Stil von Al Capone als ein moderner Antiheld. Trotzdem ist es ein frischer Wind im deutschen Fernsehen, überhaupt längere Zeit im realistischen Privatleben eines Gesetzlosen zu verbringen und die Figuren in seiner tiefer zu erforschen als das in einem einfachen Film möglich wäre: die ahnungslose, leicht hohlköpfige Ehefrau; der übermotivierte Jungkriminellen mit Aggressionsproblemen; oder der verzweifelte Taktierer, der seinen Chef offenen Auges in eine Falle laufen sieht – all diese Figuren entspringen einem gewissen Klischee, das sie im Lauf dieser zehn Stunden aber deutlich transzendieren.
Am stärksten aber ist „Undercover“ bei seinen Ermittlerfiguren, die sich als Ehepaar tarnen und den Drogenboss auf seinem Stamm-Campingplatz kennenlernen sollen: ein alter Undercover-Hase, der längst sein bürgerliches Leben hinter sich gelassen hat und in diesen zehn Folgen nur immer neue Regeln entdeckt, die er brechen kann; und eine neue Kollegin, die seine Ehefrau spielen muss und in den Abgrund schaut, der auf der anderen Seite von Vertrauen und Anstand liegt. Was diese beiden erdulden müssen, aber auch was sie absichtlich opfern und zerstören, um diese sehr schnell persönlich werdende Vendetta gegen den Drogenkönig auszufechten, das ist Krimi, wie er eigentlich mal gedacht war. Und das fesselt auch und baut eine tatsächliche Verbindung zum Zuschauer auf, der niht nur zittern wird, ob diese beiden lebendig aus dieser Geschichte rauskommen – sondern auch, wer sie dann sein werden. Wer sie in ihrem Innersten die ganze Zeit waren.
„Undercover“, ZDF Neo, erste Folge am 8. Mai 2019, 21.45 Uhr, alle zehn Folgen vorab in der Mediathek.
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