Polemik bei Anne Will: Deutschlands „kaputter Panzerpazifismus“

Thema bei Anne Will: „Wie steht es um die Bundeswehr und wie steht es um die Verteidigungsfähigkeit unseres Landes ein Jahr nach dem Beginn des Ukrainekriegs?“
Berlin – In der Sendung vom 19. März 2023 bei Anne Will bestimmte der Zustand der Bundeswehr die Diskussion. Genauso polemisch wie der Ankündigungstext der Sendung in der ARD selbst ging es dann auch unter den Gästen zu. Eingeladen waren Gerhart Baum, Bundesminister a.D. und FDP-Politiker, Nicole Deitelhoff, Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Frankfurt, Friedens- und Konfliktforscherin, Hedwig Richter, Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität der Bundeswehr München, Ralf Stegner, Mitglied des Bundestags und darin Mitglied im Auswärtigen Ausschuss sowie André Wüstner, Vorsitzender des Bundeswehrverbandes und Oberst.
Die Schlüsselfrage des Abends lautete: „Wie steht es um die Bundeswehr und wie steht es um die Verteidigungsfähigkeit unseres Landes ein Jahr nach dem Beginn des Ukraine-Kriegs?“ Die Bundesregierung hat ein Sondervermögen von 100 Milliarden beschlossen, das der Bundeswehr zukommen soll – was die Anwesenden bei Anne Will einstimmig begrüßten.
Bundeswehroberst bei Anne Will: „Will man weiter träumen?“
Für Oberst André Wüstner sei die Summe aber zu gering, um einen richtigen Unterschied zu machen. „Die Infrastruktur befindet sich in einer prekären Lage“, sagte er. Ihm fehle es am politischen Willen, daran tatsächlich etwas zu ändern. Es habe genug Ankündigungen von Experten gegeben, dass es zu einer militärischen Eskalation kommen werde. „Spätestens nach 2014 hätte man erkennen müssen, dass man was ändern muss“, meinte er weiter. „Verstehen es jetzt alle oder will man weiter träumen?“, warf er ein.
Die Zeiten hätten sich geändert, auch darauf einigten sich die Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Sendung in der ARD. Wie man damit umgehen müsse, darüber weniger. Als Zeugen fast eines ganzen Jahrhunderts hatte Anne Will den FDP-Politiker und ehemaligen Bundesminister Gerhart Baum zu Gast. Er erinnerte sich, wie er zwölf Jahre alt war, als in Dresden die Bomben im Zweiten Weltkrieg fielen, daran, wie die Stadt einst dem heutigen Mariupol glich. Bei allem gebotenen Respekt für Baum, was er in der Sendung sagte, trug nur sehr bedingt zu einer differenzierten Diskussion bei. Vielmehr formulierte er vor allem Allgemeinplätze wie „die Deutschen haben eine Grundskepsis gegenüber der Nato“, während das gar nicht begründet sei, oder „wir müssen daran denken, wer uns damals befreit hat“, denn das seien auch ausländische Nationen gewesen, die zu den Waffen gegriffen hätten, „man muss erkennen, wenn es ohne Waffen nicht mehr geht“.
Plattitüden bei Anne Will (ARD): „Die Ausrüstung muss verbessert werden“
Substanzieller war der Meinungstausch, wenn sich Wüstner und Ralf Stegner konfrontativ begegneten. Letzterer wurde in der Sendung zum Ziel allen Unmuts über die vermeintliche fehlende Entscheidungskraft der deutschen Politik. Er versuchte sich zwar zu wehren, indem er zustimmte, dass der Bundeswehr ab sofort die finanzielle Unterstützung zugesprochen werden solle, die sie für ihre Verteidigungs- und Bündnisfähigkeit brauche. „Die Ausrüstung muss verbessert werden“, sagte er beispielsweise. Die Zögerlichkeit, die man der Regierung vorwerfe, sei vielmehr Besonnenheit, machte er aber klar. Und überhaupt solle man nicht denken, dass „die Weltprobleme damit gelöst würden, sich aufzurüsten“. Das gelte auch im Ukraine-Konflikt. „Für Deutschland sind drei Bereiche wichtig: Die Lieferung von Waffen, dass es zu keiner Ausweitung des Krieges kommt und dass Deutschland keine Alleingänge macht.“
Zur Sendung
„Anne Will“ im Ersten. Thema: Rüsten für den Frieden – Welche Lehren zieht Deutschland aus der Zeitenwende? Die Sendung vom 19. März 2023 in der Mediathek.
Für die Historikerin Hedwig Richter steht Stegner in einer Tradition des deutschen „kaputten Panzerpazifismus“. Das war nicht die einzige verkürzte und polemisch aufgeladene Floskel, die sie Stegner in der Sendung in der ARD entgegenschleuderte. „Demokratie ist nicht Demoskopie“ und „es kommen noch viele Zumutungen auf uns zu“ waren zwei davon. Sie forderte auch immer wieder Sprechzeit und nicht von ihm unterbrochen zu werden ein, doch war es vielmehr sie, die nicht zum Zuhören gekommen war. Im Nachhinein wüssten Historiker immer alles besser, ließ sich Stegner als Entgegnung nicht nehmen.
Nicole Deitelhoff macht die Sendung interessanter
Umso interessanter war die Beteiligung von Friedens- und Konfliktforscherin Nicole Deitelhoff. Es sei vollkommen nachvollziehbar, dass sowohl die Politik Schwierigkeiten habe, Taten auf die politische Entscheidung einer Stärkung der Bundeswehr folgen zu lassen, als auch die öffentliche Meinung, diese zu akzeptieren. „Bisher war der deutsche Weg anders“, sagte sie. Man wollte eine Zivilmacht sein, „Verteidigung war nachrangig, man hat direkte Entwicklungshilfe betrieben“.
Anne Will im Ersten | Die Gäste der Sendung vom 19. März 2023 |
Gerhart Baum | Bundesminister a.D. und FDP-Politiker |
Nicole Deitelhoff | Professorin für Politikwissenschaft, Friedens- und Konfliktforscherin |
Hedwig Richter | Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität der Bundeswehr München |
Ralf Stegner | Mitglied des Bundestags (SPD) und Mitglied im Auswärtigen Ausschuss |
André Wüstner | Vorsitzender des Bundeswehrverbandes und Oberst |
Selbst nach 2014 habe man „diese Sicherheitsbedrohung noch nicht als existenziell angesehen“, erklärte sie in der ARD bei Anne Will, „man dachte, man könne diplomatische Offerten machen, man hat alles getan, um diesen Waffengang zu verhindern“. Die Forderung Wüstners, Deutschland müsse darüber nachdenken, in eine Kriegswirtschaft zu wechseln, lehnte sie vehement ab. „Das ist ein falscher Begriff, der vom Ersten Weltkrieg geprägt ist“, sagte sie, „damals sei die gesamte Volkswirtschaft der Kriegsproduktion untergeordnet worden“. Das sei eine nicht zielführende Provokation. „Dieser Begriff weckt Assoziationen, die wir nicht wollen sollten, und beinhaltet eine gewisse Verherrlichung des Waffengangs.“
Überhaupt wisse man noch nicht, ob die Gesellschaft bereit sei, zu akzeptieren, dass mehr Geld in die Bundeswehr reingehe. Dadurch würden Mittel für politische Ziele in anderen Bereichen nicht mehr zur Verfügung stehen. Darüber müsse man sprechen. Man müsse darüber sprechen, welche Prioritäten man setzen wolle. Und hier knüpfte Deitelhoff an Richters Aussage an, dass die Zeitwende ein gesellschaftliches Umdenken erfordern werde und stellte die Frage: „Was sind wir bereit, dafür zu opfern?“. (Teresa Vena)