„The Innocents“ im Kino: Das geheime Leben der Kinder im Horrorfilm

Der Norweger Eskil Vogt hat seinen einzigartigen Horrorfilm „The Innocents“ mit Zehnjährigen in den Hauptrollen besetzt.
Wenn Zehnjährige die Hauptrollen in einem Horrorfilm spielen, ist das schon einmal ein Ereignis. Unwillkürlich öffnen sich Fenster der Filmgeschichte, in denen sich Übernatürliches durch Kinderaugen zeigt – und manchmal auch der Schrecken selbst von ihnen ausgeht.
Seit Walt Disney sein „Schneewittchen“ durch den finsteren Wald jagte und seit Charles Laughtons moderner Hänsel-und-Gretel-Variation „Die Nacht des Jägers“ gab es noch einige weitere ikonische Momente im Kino: Stanley Kubricks „Shining“ zum Beispiel oder Jack Claytons elegantes Gruselstück, von dem dieses norwegische Drama nicht nur seinen Titel gestohlen hat: „The Innocents“. Nach Henry James’ Roman „The Turn of the Screw“ („Die Drehung der Schraube“) spielte Deborah Kerr darin eine Gouvernante, die davon überzeugt ist, dass die Kinder in ihrer Obhut in direktem Kontakt zu Verstorbenen stehen. Den Kleinen jedoch ist kein Geheimnis zu entlocken.
Kino: Kinder mit übersinnlichen Fähigkeiten im Film „The Innocents“
Die vier Kinder, die sich in Eskil Vogts gleichnamigem Film rund um ein anonymes Mietshaus treffen, haben keine Gouvernanten, denen sie etwas verschweigen müssten. Dass sie einer weniger wohlhabenden sozialen Schicht angehören, mag die viele unausgefüllte Zeit erklären, die sie während eines heißen Sommers im Hauskeller, auf Spielplätzen, am Waldrand oder auf einer Autobahnbrücke verbringen. Eines der Kinder, die kleine Ida, ist selbst so etwas wie eine Aufsichtsperson für ihre etwas ältere, autistische Schwester Anna. Mit drei Jahren hat diese ihre Sprache verloren, doch seltsame Geschehnisse lassen sie wieder Wörter sprechen.
Zum Nachbarmädchen Aisha scheint sie in einer telepathischen Verbindung zu stehen, und auch Ida hat einen Freund mit übersinnlichen Fähigkeiten gefunden. Der gleichaltrige Ben besitzt die unheimliche Gabe, Menschen seinen Willen aufzuzwingen. Anna entdeckt in sich ebenfalls eine Begabung zur Telekinese, doch während sie damit lediglich Topfdeckel zum Kreisen bringt, hat Ben eine finstere Fantasie. Noch bevor sich seine übernatürliche Begabung zeigt, offenbart eine gespenstische Szene seine grausame Neugier im Umgang mit einer streunenden Katze.
Das Bemerkenswerte an diesen Episoden ist die Selbstverständlichkeit ihrer Inszenierung. Das Spiel der Kinder ist von einem ungebrochenen Naturalismus, scheinbar ungelenkt ergibt sich das Übernatürliche aus den alltäglichen Situationen, die sie umgeben. Die zarte Farbigkeit der attraktiven Kameraarbeit (Sturla Brandth Grøvlen) ruft dabei einen weiteren Klassiker über kindliche Grausamkeit in Erinnerung, Roland Klicks „Bübchen“. Bei der Klärung der Frage, wie sie ihrem mörderischen Spielkameraden das Handwerk legen kann, ist Ida dann ganz auf sich selbst gestellt; ihren Eltern wäre das Unglaubliche nicht zu vermitteln. Eine entsprechend unerklärliche Tragödie ist da bereits geschehen.
„The Innocents“ von Eskil Vogt: Ein Klassiker des fantastischen Kinos
Es ist nicht zu hoch gegriffen, diesen ungewöhnlichen Film unter die Klassiker des fantastischen Kinos einzureihen. Auch wenn er mit der genretypischen visuellen Opulenz nichts am Hut zu haben scheint, offenbart er doch auf den zweiten Blick einen bemerkenswerten Ästhetizismus. Das Wohnsilo, das erhaben über einer waldigen Landschaft thront, wirkt als Schauplatz nicht weniger artifiziell als eine viktorianische Villa.
Im atemberaubenden Spiel der Kinder generiert der Filmemacher eine vollkommene Gegenwelt zum äußeren Realismus. Und schlägt dabei ganz unmerklich eine Brücke zur Märchenwelt, die sich hier freilich aller romantischen Zauberhaftigkeit entkleidet zeigt. Sie erscheint lediglich präsent als Abstellgleis für alles Unerklärliche, das die Erwachsenen den Kindern zuweisen, da in ihrer Lebenswirklichkeit kein Platz dafür ist.
„The Innocents“
Norwegen/Schweden/Dänemark/Großbritannien 2021. Regie: Eskil Vogt. 117 Min.
Bei der fast eine Spur zu kühlen Choreographie dieses Filmdramas spielen alle Elemente zusammen – nicht zuletzt Pessi Levantos Filmmusik mit ihrem auf einem Kinderklavier gespielten Leitmotiv. Aber gerade weil hier nichts dem Zufall überlassen ist, fragt man sich auch, was es mit der auffälligen sozialen und ethnischen Verortung auf sich hat. Während Ida und Anna ethnisch weiße Norwegerinnen sind, die bei beiden Eltern aufwachsen, haben Aisha und Ben einen Migrationshintergrund und wachsen ohne Väter auf. Die Assoziierung der nichtweißen Kinder mit dem Übernatürlichen würde sich kaum einem Exotismusvorwurf aussetzen, wenn ihr Umfeld ähnlich genau gezeichnet wäre wie das der Schwestern.
„The Innocents“ im Kino: Film erzählt aus Perspektive der Kinder
Vermutlich ist nichts davon intendiert, und die Absicht des Filmemachers bestand lediglich darin, die multiethnische Bewohnerschaft des Hauses zu repräsentieren. Und da der Film weitgehend aus der Perspektive der Kinder erzählt ist, für die das kein Thema ist, bleiben eben ein paar Leerstellen offen. Die allerdings fallen umso mehr auf, als der Film ja eine große Kunst darin entwickelt, das Fantastische in einem glaubhaft-naturalistischen Umfeld zu präsentieren.
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