„The 355“ im Kino: Wie man eine Festplatte rettet

Wie sind sie nur hier reingekommen? Der rätselhafte Agententhriller „The 355“ verschenkt ein erstklassiges Darstellerinnenensemble.
Tief im kolumbianischen Dschungel hat ein Drogenbaron ein neues Geschäftsfeld entdeckt: „Technologie ist die neue Droge“, raunt er vielsagend seinem windigen Besucher zu, einem britischen Vertreter der Superkriminalität. In seiner Hand halte er einen Schlüssel, der jedes Computersystem der Welt knacken könne. Nicht auszudenken, was sich so anstellen lasse. Den Beweis für seine Prahlerei muss gleich darauf die arglose Besatzung eines Flugzeugs erbringen, dessen einziger Fehler es ist, sich im falschen Moment am falschen Himmel zu zeigen.
Mit einer Allmachtsfantasie, wie sie kleine Kinder entwickeln, beginnt der Actionfilm „The 355“. Und viel erwachsener will er dann auch nicht mehr werden.
Immerhin kann er mit einer illustren internationalen Darstellerinnenriege für sich werben: Jessica Chastain, Penélope Cruz, Bingbing Fan, Diane Kruger und sogar eine Oscar-Preisträgerin, Lupita Nyong’o aus „Twelve Years a Slave“. Wer sich also im Verlauf der folgenden immer abstruseren zwei Stunden im falschen Film wähnen sollte – wie viel schlimmer hat es diese Schauspielerinnen getroffen.
Zunächst überrascht die fast schon rührende Unkenntnis gegenüber jeder Computertechnologie, von deren Omnipotenz man doch so sehr überzeugt ist. Tatsächlich liegt das digitale Schicksal der Welt, wie wir sie kennen, hier in einer altmodischen Festplatte. Natürlich bleiben derart mächtige Gegenstände, seien es nun Heiliger Gral, Bundeslade oder das Schwert Excalibur, nie lange beim selben Besitzer.
So wartet auch schon vor der Dschungelresidenz eine von etlichen ungelenken Geheimdiensttruppen, denen wir noch begegnen werden, um Die Platte einzukassieren. Immerhin gelingt es einem der kolumbianischen Agenten, das kostbare Ding über alle Berge zu schaffen. In Paris will er seinen Schatz der CIA verkaufen, für den Spottpreis von drei Millionen Dollar. Das ruft zwecks Übergabe die von Jessica Chastain gespielte Agentin Mace auf den Plan. Ausgerechnet als Flitterwöchlerin hat sie sich mit einem Kollegen getarnt, dessen zweifelhaften Charakter wir bereits durchschauen, als sie das noch romantisch findet. Ein böses Omen, von dem aber zunächst eine kuriose Verfolgungsjagd durch einen Metroschacht ablenkt.
Und der nächste Starauftritt: Eine denkbar unglamouröse Diane Kruger ist als BND-Agentin auf die gleiche Fährte angesetzt, hat aber statt des gesuchten Computerteils am Ende nur den Geldsack in der Hand. Selten hat man die Protagonistinnen eines Agentenfilms so oft Flüche ausstoßen hören, wenn ihnen etwas misslingt. Ian Fleming oder John le Carré wären wohl entsetzt. Und ein Missgeschick kann in diesem Fall auch bedeuten, immerhin drei Millionen Dollar gerettet zu haben.
Während beide Agentinnen ihren nicht erfreuten Vorgesetzten Rede und Antwort stehen, lernen wir die nächste Regierungsbeauftragte von der oberen Besetzungsliste kennen: Vielleicht ist es ja Penélope Cruz, die uns in diesen Film gelockt hat. Als Psychologin in kolumbianischen Geheimdiensten hat sie sich immerhin die kurioseste Rolle ausgesucht.
In Kampftechniken gänzlich unerfahren, soll sie abtrünnigen Agenten auf den Zahn fühlen und diese wenn möglich zur Heimkehr manipulieren. Nun aber ist sie mitten ins Haifischbecken geraten und kann sich nur noch in Begleitung ihrer künftigen Mitstreiterinnen auf die Straße trauen: Neben der US-amerikanischen und deutschen Kollegin, die weiter nach dem Datenträger suchen, komplettiert die britische Computerspezialistin Khadijah das Quartett.
Lupita Nyong’o spielt ihre anspruchslose Rolle mit der Lässigkeit der Oscar-Veteranin. Als sie die vorübergehend eroberte Disk auf ihrem Computer analysieren kann, präsentiert sich die Verschlüsselung als kunstvoll animiertes Datenlabyrinth: Schwärmerisch erklärt sie die Schönheit der Algorithmen. Die Leinwand füllt sich mit einer steinzeitlichen Computeranimation auf dem technischen Stand des Filmklassikers „Tron“ von 1981. Ihre kurze Ansprache dazu hat etwas von der Feierlichkeit der Vorlesungen in „A Beautiful Mind“.
Dies ist die Sorte Film, die so nah an der Parodie gebaut ist, dass man sie gerne mal einem echten Komödienmeister wie etwa Terry Gilliam vorführen würde. Vermutlich würde er sich in Lachkrämpfen schütteln und fände beim besten Willen nichts daran mehr zu verbessern. Wie kann dieser Film nur so steinzeitlich wirken? Hat er während des Corona-Lockdowns zwei Jahre auf Halde gelegen und ist dabei so schonungslos gealtert?
Schlimm genug, dass man uns weismachen will, dass ein Stück obsoleter Technologie über die Zukunft des Planeten entscheidet. Aber auch das scheint zwischen den Verfolgungsjagden niemanden wirklich zu kümmern. Einmal erfahren die Frauen bei einem gemeinsamen Pub-Besuch über den Fernseher, was wieder jemand damit angestellt hat: „Sechs Jets von Terroristen zum Absturz gebracht“ lauten die Breaking News unter den Bildern. Es ist wie immer, wenn in der Welt mal etwas passiert: Man muss erst dem Wirt Bescheid sagen, dass er wenigstens den Ton anstellt.
Es könnte ein richtig lustiger Film sein, wenn man nur ein paar Schrauben hier und da verstellte: Wäre es nicht schön, wenn sich die vier in ihrer Jagd nach dem unseligen Stück Elektroschrott einmal ihrer märchenhaft-irrealen Rollen bewusst würden? Als ein zusammengewürfelter Haufen wie die Bremer Stadtmusikanten, die ihre jeweiligen Fähigkeiten gegen die Räuberbande nutzen?
Etwas Besseres als den Tod finden sie jedenfalls überall: Ihre Route entspricht dabei der billigsten Bond-Tour aus dem Reisebüro: Vom Londoner Fischmarkt geht es über das flirrende Marrakesch in einen Schanghaier Wolkenkratzer, wo Bingbing Fan zur Truppe stößt, die bei einem dubiosen Treffen superreicher Krimineller ihre Aufwartung macht. Als Moderatorin einer Party chinesischer Superreicher scheint sie immerhin eine gute Besetzung. Mehrere Jahre führte sie die Forbes-Liste der reichsten Chinesinnen an, ohne dass die meisten ihrer Filme im Ausland bekannt gewesen wären (bei „Iron Man 3“ beschränkte sich ihre Mitwirkung sogar auf die chinesische Version). Nun kann man sie wenigstens auch mal bei uns im Kino sehen. Nur – wie bei den anderen Hauptdarstellerinnen stellt sich zugleich die Frage: Warum gerade in diesem Film?
Der Filmverleih versucht es immerhin mit einer Anekdote: Als im Mai 2017 Jessica Chastain mit Bingbing Fan in der Jury des Festivals von Cannes saß, sei sie auf die vielen Poster aufmerksam geworden, die auf dem Filmmarkt für Actionfilm-Projekte warben – fast alle mit männlichen Darstellern. „Sie stellte sich die Frage, warum das so ist, wo es doch so viele großartige weibliche internationale Stars gibt. Warum hatte sich noch nie jemand die Mühe gemacht, sie zusammen in einem Film auftreten zu lassen?“
Nun, es wird vielleicht umgekehrt ein Schuh daraus. Die meisten dieser reißerischen Plakate noch ungedrehter Projekte machen wirklich keinen guten Eindruck. Und die wenigsten dieser Filmideen sehen eines Tages das Licht eines Projektors. Vielleicht wäre das anders, wenn sich erstklassige Schauspielerinnen dafür interessierten, und was würde daraus entstehen?
Nehmen wir also diesen Film als ein Experiment. Fasziniert folgen wir einem Opus von einer Rätselhaftigkeit, die sich nicht auflösen lässt. Und dessen einzige Attraktivität in seinen wirklich großartigen, aber mit ihrem Talent vollkommen verschenkten Darstellerinnen liegt.
The 355. USA 2022. Regie: Simon Kinberg. 124 Min.