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Tatort „Reiz des Bösen“: Ein Fall für Turbo-Jütte

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Von: Judith von Sternburg

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Lenny, Wulf Kurscheid, hinten seine Mutter, Picco von Groote. Foto: Martin Valentin Menke/WDR/Bavaria Fiction
Lenny, Wulf Kurscheid, hinten seine Mutter, Picco von Groote. © Martin Valentin Menke/WDR/Bavaria Fiction GmbH

Wer hätte das gedacht? Der Assistent von Ballauf und Schenk läuft im Köln-Tatort „Reiz des Bösen“ zu großer Form auf.

Alles scheint wie immer. Über die Tastatur von Jütte geht eine Schnecke, das ist nicht im übertragenen Sinne gemeint und das kann dauern. Aber Jütte hat Zeit. Wo kommt die Schnecke her, wo geht sie hin? Wir werden es nie erfahren, denn plötzlich passiert etwas und nun kommt Leben in den trägsten Schreibtischassistenten, den ein Tatort-Kommissariat je zur Verfügung hatte. Wer hätte das gedacht: eine Folge für Jütte. Jütte, der einst Turbo-Jütte genannt wurde, wie das Publikum staunend erfährt, aber noch mehr staunt Ballauf und am meisten staunt Schenk.

Man muss sich in diesem Zusammenhang auch daran gewöhnen, dass Jütte einen Vornamen hat. Er heißt Norbert. Norbert Jütte ist der Alptraum jedes Büros, aber im Fernsehen schaut man Roland Riebeling zu gerne dabei zu, wie er sein Leben auf sparsamer Flamme hält. Diesmal jedoch werden Sie ihn rennen sehen, rennen und röcheln, aber weiterrennen. Ein junger kräftiger Mensch läuft vor ihm davon, Jütte hält mit, das glaubt kein Mensch. Andererseits: Turbo-Jütte!

Tatort aus Köln mit trickreicher Handlung auf ARD: Folge neigt zur Überdeutlichkeit

Es geht im Kölner Tatort mit den Ermittlern Ballauf und Schenk an sich um etwas anderes. Eine Frau wird ermordet, deren Ex wie deren jetziger Mann enorm aggressiv sind. Sofort läuft die Mitratemaschinerie an, obwohl man der Polizei da bereits um eine Nasenlänge voraus ist. Andererseits auch nicht. Man wird, um das klar zu sagen, über den Tisch gezogen. Im Buch von Arne Nolting und Regisseur Jan Martin Scharf ist ein Trick eingebaut, eine falsche Voraussetzung – gut gemacht, weil man an mindestens einer Stelle unbedingt Gelegenheit hat, es zu bemerken, bevor der Fall klar ist. Der Trick ist das Beste in diesem ansonsten teils einfach, teils umständlich geformten Tatort. Auch wäre es immer noch schöner, wenn Max Ballauf, Klaus J. Behrendt, nicht so oft noch einmal erklären müsste, was bereits jeder weiß (dass Herr Soundso es dann nicht gewesen sein kann, zum Beispiel).

Der Verdacht fällt zuerst auf den jetzigen Mann, kürzlich erst aus der Haft entlassen. Sahin Eryilmaz spielt ihn mit erheblicher Energie, so dass plastisch vorstellbar wird, wie Antiaggressionstraining funktioniert. Nicht weil er Tisch und Stühle zerhaut in dieser zur Überdeutlichkeit neigenden Folge, sondern weil man ihn im Moment vorher sieht, dem Moment vor der Gewalt.

Kölner Tatort „Der Reiz des Bösen“ (ARD): Bedrängung und Verquersein sind schwer zu ertragen

Das Thema kommt aber vor allem auf Hybristophilie, denn im Tatort lernt man immer neue Fachbegriffe dazu. Hybristophilie betrifft Frauen, die zu gewalttätigen Männern neigen, hier vermittelt über Brieffreundschaften ins Gefängnis. Daraus resultiert der Titel „Reiz des Bösen“, daraus resultiert eine Runde Küchenpsychologie, daraus resultieren aber vor allem unerquickliche Familienszenen mit Picco von Groote als Mutter, Wulf Kurscheid als Sohn und Torben Liebrecht als neuem Mann im Haus, nein, in der kleinen, liebevoll eingerichteten Zweipersonenwohnung. Darin stecken eine Bedrängung und ein Verquersein, die schwer zu ertragen sind. Die Wehrlosigkeit von Kindern, denen ein Fremder als Vater vorgestellt wird: Regisseur Scharf führt sie mit Intensität und ohne Rührseligkeit und ohne Hoffnung vor. Es gibt auch keine Gelegenheit, etwas in Ruhe zu besprechen oder nachzuarbeiten. Es herrscht insgesamt eine Stummheit und Prosa im forcierten Idyll, wie seit dem Zappel-Philipp nicht mehr.

Nur die Kommissare plappern fröhlich weiter. Schenk, Dietmar Bär, fährt im Ferrari vor und hat keinen Bart mehr, Ballauf dafür direkt ein Scherzwort auf den Lippen. Diese Momente erinnern längst an die strapaziöse Phase, als Stoever und Brockmoeller nicht mehr aufhören konnten, an irgendeiner Stelle doch ein Lied zu singen. „Tatort: Reiz des Bösen“, ARD, So., 20.15 Uhr. (Judith von Sternburg)

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