Das Stendhal-Syndrom

Hübsch und doch im Innern leer: Joachim Triers überwirklicher Coming-of-Age-Thriller "Thelma".
Joachim Trier, entfernt verwandt mit Lars von Trier, überlässt in seinen Filmen nichts dem Zufall. „Louder than Bombs“, sein letztes Werk von 2015, war ein psychologisch hoch fundiertes Familiendrama um den verschlossenen Sohn einer toten Kriegsfotografin, erzählt in glasklaren Bildern. „Thelma“, sein neues Psychodrama, knüpft stilistisch daran an – und fasziniert und befremdet in seiner kühlen Perfektion abermals gleichermaßen.
In der hochauflösenden Digitalaufnahme einer Menschenmenge trifft die Kamera des Filmanfangs mit Hilfe eines langsamen Zooms auf ihre Protagonistin. Auf dem Campus einer Osloer Uni sucht sich die Erstsemesterstudentin Thelma ihren Weg. Dem überbehütenden, streng religiösen Elternhaus in der norwegischen Provinz ist sie nur physisch entflohen. Mental hängt sie noch immer am Gängelband des moralisierenden Vaters, dem sie in Telefongesprächen ihren Lebenswandel beichten muss. Schon ihr Studium der Naturwissenschaften ist eine echte Toleranzprobe für den Kreationisten. Und was da noch so alles auf die junge Frau einwirkt, mag sie ihm gar nicht erzählen.
Da ist zum Beispiel ihre Faszination für die ungleich lebenstüchtigere Mitstudentin, die sie bald zu einer vorsichtigen Liebesbeziehung zu verführen scheint. Oder sind es doch andere Kräfte, welche die Begehrte immer dort auftauchen lassen, wo Thelma es sich gerade wünscht? Trier findet dafür spektakuläre Kulissen in einem grandiosen Schwimmbad oder dem 2008 eröffneten Osloer Opernhaus. Zu den Klängen von Philip Glass’ zweiter Sinfonie, im Glanz der Lichtskulptur von Olafur Eliasson wird es der jungen Frau zu viel. Ist es nun allein der Kulturrausch, das sogenannte „Stendhal-Syndrom“, dem Dario Argento einen ganzen Film widmete, der hier sichtlich Pate stand? Oder ist es die Hand der Geliebten auf den Schenkeln? Thelma entflieht der Situation und findet sich bald wieder im kulturfernen Gefängnis des Elternhauses.
Tatsächlich sind jedoch noch weitere Kräfte im Spiel, die sich psychologisch nicht erklären lassen. Thelma hat übernatürliche Gaben, die es ihr schließlich erlauben werden, die mächtigen Kräfte nicht nur zu zähmen, sondern ihre Welt unsichtbar zu lenken.
Eigentlich sollte diese Geschichte genug Stoff abgeben für einen interessanten, überwirklichen Thriller. Doch zusehends stellen sich die kühle Konstruktion der Handlung und die klinische Perfektion, mit der die Szenen eingerichtet sind, allem Zauber in den Weg. Alles an diesem Film wirkt äußerlich, ja geradezu diktiert von den Verlockungen attraktiver Spielorte und der HD-Fotografie. Wie weit entfernt sich das europäische Arthouse-Kino derzeit von den USA, wo wieder fast alle wichtigen Filme auf Zelluloid gedreht wurden? Hier sehen die Filme oft so klinisch und sauber aus, als kämen sie gerade vom Zahnarzt.
Das fällt umso mehr auf, je präsenter die unerreichten filmischen Vorbilder sind: Neben Dario Argento, dem auch die Retro-Elektronik im Soundtrack huldigt, denkt man hier vor allem an Jacques Tourneur, der in „Katzenmenschen“ einen verwandten Stoff mit betörendem Minimalismus inszenierte. „Thelma“ ist fraglos auf seine Art ein Augenschmaus, aber das hilft nicht über eine innere Leere hinweg, die auf ironische Weise durchaus zum Dilemma der Protagonistin passt. Eine Weile folgt man gern, doch dann stellt sich die nüchterne Erkenntnis ein, dass hier sehr viel hochstehendes Kunsthandwerk am Ende etwas Nichtsnutziges hervorgebracht hat.