Wahrscheinlich sind einige schon zum zweiten Mal im Kino, sonst ließe sich der rasante Erfolg kaum erklären: 14 Tage haben gereicht, um den Marvel-Blockbuster vorbei an zwei chinesischen Blockbustern und „James Bond: No Time to Die“ mit einer Milliarde Dollar Einspielergebnis zum weltweit erfolgreichsten Film des Jahres zu machen. Am Dienstag wurde allein in den USA die 500-Millionen-Marke übertroffen, mehr als Disneys „Die Schöne und das Biest“ und mehr als jeder andere Film in der Geschichte von Sony Pictures.
Einen Verlierer gibt es natürlich auch: Warner Bros.’ konkurrierender Blockbuster „Matrix – Resurrections“, gedreht in Köln und Babelsberg, brachte es in der gleichen Zeit auf lediglich 23 Millionen Dollar. Da hilft es wenig, dass in mancher Kritik die selbstreferenzielle Reise in die Virtualität für den intelligenteren Fortsetzungsfilm gehalten wurde. „Spider Man“ erfüllt seine Absichten so leichthändig und treffsicher, dass auch ein Sensationserfolg – wenigstens aus der Sicherheit der Nachbetrachtung – durchaus erklärlich scheint.
Selten hat ein Film so geschickt mit den Erwartungen seines Publikums gespielt und sie offensichtlich übertroffen. „Fanservice“ heißt das neue Wort für etwas, das man in Hollywood schon seit mehr als hundert Jahren perfektioniert – die antizipierende Kommunikation zwischen den Machern und dem, was das Marketing eine Zielgruppe nennt. Glücklich, wer dabei über das Ziel hinausschießt, denn nur so erweitert sich das Publikum.
Zu Beginn des amerikanischen Studiosystems begannen der Produzent Jesse Lasky und sein Hausregisseur Cecil B. DeMille damit, Zuschauerpost systematisch auszuwerten. Daraufhin produzierten sie genau das Gewünschte: Als man sich in den 1910er Jahren in der Provinz für Ehescheidungen interessierte, erfanden sie die „Comedy of Remarriage“. 1925 erfüllte man dann den Wunsch nach einem Epos über das Leben Jesu.
Der neue „Spider Man“ kombiniert gleich mehrere Massenphänomene: Als Teil eines über Jahrzehnte etablierten Franchise schöpft er aus einem reichen Ensemble liebgewordener Helden und Schurken, doch das tun auch andere. Wichtige Nebenrollen werden von Größen aus dem Arthouse-Kino wie Willem Dafoe und Benedict Cumberbatch verkörpert, was das Publikum bereits erweitert. Dazu kommt mit den Zauberkräften des von Letzterem gespielten Doctor Strange eine Art Harry-Potter-Qualität. Eine metaphysische Liebesgeschichte schließlich öffnet eine Tür in Richtung „Twilight“ oder besser noch: einer Version von „Titanic“, wo beide Liebende am Ende am Leben bleiben.
Zugleich nimmt Regisseur Jon Watts einen Faden auf, den Sam Rami mit seiner ersten „Spider Man“-Trilogie meisterhaft gesponnen hat – die Verortung eines Comic-Blockbusters in den Genrekonventionen des modernen Teenagerfilms. Der Filmemacher John Hughes hatte diese Filmform in den 80er Jahren mit Werken wie „The Breakfast Club“ und „Ferris macht blau“ zu ungekannten Höhen geführt. Seine oft tragisch getönten Komödien verstanden das ewige Dilemma Heranwachsender im Wunsch nach Selbstvervollkommnung im Angesicht des unvermeidlichen Scheiterns. In der Figur des Spider Man wird die Fallhöhe dieses Konflikts in buchstäblich epische Dimensionen ausgedehnt. Alltagsprobleme wie die gemeinsame College-Bewerbung mit Freunden werden auf der gleichen Ebene verhandelt wie der Tod der Tante, die Weltrettung und der Zugang zu Meta-Universen. Wie gut Watts die Komödien von Hughes, dem Autor von „Kevin – Allein zu Haus“, studiert hat, merkt man neben seiner anarchischen Lust am Chaos auch an der geschickten Verortung in der weihnachtlichen Saison des Kinostarts.
Kein Wort fällt in der Fanpresse wohl häufiger über das Zusammenspiel der Stars Tom Holland und Zendaya als „Chemie“: Kunststück, wenn man weiß, dass beide Jungstars auch privat liiert sind.
Ja, das Kino ist zurück, und zwar dort, wo Hollywood einmal angefangen hat. Schon in der Stummfilmzeit feierten die Fans authentisches Knistern zwischen Leinwandpaaren wie Greta Garbo und John Gilbert. Oder, in späterer Zeit, das Krachen zwischen Liz Taylor und Richard Burton. All diese Phänomene lassen sich heute über soziale Medien transportieren und kommentieren, so wie sie früher die Leserbriefseiten der Fanzeitschriften füllten. Aber ohne das Kino wären diese magischen Tage nach dem Kinostart, wäre ein solches Phänomen nicht vorstellbar.
War die Netflix-Serie „Squid Game“ der Straßenfeger des Pandemiejahres, inszeniert dieser Film das Kino als unverzichtbaren Wirkungsort („Matrix“ wurde in den USA dagegen parallel über Warners Streaming-Portal HBO-Max angeboten). Auch wer dieser Tage kein „Spider Man“-Fan ist, aber ein Kinofan, muss sich für die Ironie des Titels begeistern: „No Way Home“: Schon fast abgeschrieben im zweiten Corona-Jahr ist das Kino doch wieder nach Hause gekommen.
Die bange Frage ist natürlich, wie es weitergeht. Schon einmal, während des großen Kinosterbens der frühen 60er Jahre, war es das junge Publikum, das die Branche rettete. Während die Älteren vor den Fernsehern saßen, zog es die Jungen zu Karl-May-Filmen, Italowestern, aber auch ins „Dschungelbuch“. Und schließlich in ein „New Hollywood“, auferstanden aus der Asche des alten Studiosystems.