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Sichtbares Loch in Cannes

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Von: Daniel Kothenschulte

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Palmen und Poster der 71. Festspiele.
Palmen und Poster der 71. Festspiele. © rtr

Wenn Kritiken lästig wie Konfetti werden: Zum Auftakt riskiert das Festival von Cannes die Gunst der Presse.

„Everybody Knows“ hat der iranische Filmemacher Asghar Farhadi sein neues Beziehungsdrama genannt, das das Filmfestival von Cannes eröffnet. Der gleichnamige Leonard-Cohen-Song stiftete den Titel, diese finstere Hymne an die falsche Diskretion, an das Schweigen trotz besseren Wissens.

Das Filmplakat sieht aus wie eine direkte Illustration dieses Liedes, das in Metaphern von der Untreue in einer Beziehung erzählt. Das Hauptdarstellerpaar Penélope Cruz und Javier Bardem schaut darauf bitter in verschiedene Richtungen, welch ein Kinopathos: Könnte sich das glamouröseste aller Filmfestivals einen besseren Auftakt wünschen? Die beiden Spanier repräsentieren eines der wenigen glücklichen Traumpaare, die das Weltkino derzeit besitzt, dies ist schon ihr fünfter gemeinsamer Film. Und Farhadi, dessen Werke bereits zwei Auslandsoscars gewannen und der nun erstmals in Spanien drehte, ist einer der wenigen internationalen Autorenfilmer, vor denen sogar Hollywood Respekt hat.

Doch schon seit Wochen scheint dieses Festival ein weit banaleres Thema unter dem Titel „Everybody Knows“ gefunden zu haben. Wenn jeder Journalist schon alles weiß, bevor ein Wettbewerbsfilm Premiere hat, könnte das den Künstlern schon auf dem Roten Teppich die Stimmung verderben. Zumindest dann, wenn ihre Arbeit nicht gut angekommen wäre. So werden, wie bereits berichtet, diesmal keine Vorab-Pressevorführungen mehr eingerichtet. Nach einer Flut von Beschwerden erklärte sich das Festival am vergangenen Samstag noch einmal in einer langen Email gegenüber den 4000 akkreditierten Journalisten – und machte alles nur noch schlimmer: „Sobald ein Film gezeigt worden ist, verbreiten sich Gerüchte darüber im Internet wie Konfetti. Jetzt werden die Premieren viel kraftvoller wirken.“

Programmchef Thierry Frémaux hätte schwerlich noch mehr Öl ins Feuer gießen können. Als wären Kritiker Lieferanten von Gerüchten, bestraft er nun gerade die Vertreter der Qualitätszeitungen. Denn während die Blogger ihr „Konfetti“ – in der Mehrzahl ebenfalls ernsthafte Kritiken – bereits unmittelbar nach der Vorstellung absetzen können, werden Zeitungskritiken erst am übernächsten Tag zu lesen sein. Der Weltkritikerverband Fipresci schickte daraufhin seinen Mitgliedern ein Formular, um mögliche Behinderungen ihrer Arbeit zu dokumentieren.

Noch-Berlinale-Chef Dieter Kosslick mag sich ins Fäustchen lachen: Die vermeintlich übermächtige Konkurrenz hat sich ein Stück weit selbst ins Aus geschossen, noch bevor Jurypräsidentin Cate Blanchett überhaupt ihres Amtes walten kann. Schon lange steht Cannes im Ruf eines „Frankreich zuerst“-Festivals, das vor allem die Belange der heimischen Branche im Blick hat. Die Hälfte des Budgets, das im vergangenen Jahr mit zwanzig Millionen Euro angegeben wurde, kommt vom Steuerzahler und versteht sich als Beitrag zur nationalen Filmförderung, die andere Hälfte tragen Sponsoren. Den Ausschluss von Netflix-Produktionen rechtfertigte man als Respektsbezeugung vor den französischen Kinos – auch wenn Filmfans den Streaming-Diensten seit Jahren viele innovative Produktionen verdanken. Nun aber will man auch noch die Berichterstattung kanalisieren. Ob es etwa daran liegen kann, dass man sich bei der Qualität diesmal nicht ganz so sicher ist?

Der Streit mit Netflix hat ein sichtbares Loch ins amerikanische Aufgebot gerissen. Nur noch zwei Wettbewerbsbeiträge stammen aus dem sonst so stark vertretenen Filmland, und Weltstars sind in ihnen diesmal nicht zu finden. Freuen darf man sich dennoch: Mit „Under the Silver Lake“ präsentiert sich eines der großen jungen Talente des Genrekinos, David Robert Mitchell, mit einem Epos, das an Hollywoods „Schwarze Serie“ anknüpft. Der Regisseur des originellen Horrorfilms „It Follows“ stürzt Hauptdarsteller Andrew Garfield zunächst in die Arme einer dubiosen Schönheit – und gleich darauf auf eine Odyssee durch die schillernde Unterwelt von Los Angeles.

Sein Landsmann Spike Lee meldet sich zurück mit einer ungewöhnlichen Innenansicht vom Ku-Klux-Klan: Den „BlackkKlansman“, dem es gelingt, sich in den rassistischen Geheimbund einzuschleusen, spielt John David Washington, der Sohn von Denzel. Einem weiteren Nachwuchsstar bietet die Gala-Premiere des außer Konkurrenz gezeigten „Solo: A Star Wars Story“ die große Bühne. Alden Ehrenreich ist ein Name, den man sich merken muss.

Außer Konkurrenz feiert auch der vor sieben Jahren spektakulär mit Hausverbot belegte Lars von Trier seine Rückkehr. Offenbar ist inzwischen genug Gras über seinen Selbstvergleich mit Hitler gewachsen, dass man seinen pechschwarzen Serienmörderfilm „The House that Jack Built“ wenigstens ohne Palmenaussicht platzieren mochte. Auch Wim Wenders’ neuer Film konkurriert um keinen Preis. Vergangene Woche noch in Deutschland unterwegs mit der restaurierten Fassung von „Der Himmel über Berlin“ findet er einen Engel auf Erden in dieser Auftragsarbeit für den Vatikan. „Papst Franziskus – Ein Mann seines Wortes“ besteht dann auch zu weiten Teilen aus Bildern des Vatikanfernsehens.

Wer nach einem relevanten deutschen Beitrag sucht, findet ihn in der Sektion „Un Certain Regard“. Ulrich Köhlers „In My Room“ wartet vielleicht mit der originellsten Filmidee des Programms auf: Ein Mann in der Midlife-Crisis wacht eines Morgens auf und findet sich allein auf der Welt. Die spektakulären Standfotos lassen an einen modernen Western denken.

Auch in einem Zustand der Krise findet Cannes noch genug Stoff, um die Sehnsucht aller Kinofans zu wecken. Vor fünfzig Jahren mochte Jean-Luc Godard den Abbruch des Festivals aus Solidarität mit der Studentenbewegung organisieren, heute hält er ihm die Treue mit seinem jüngsten abendfüllenden Essayfilm-Bilderbuch, „Le livre d’image“. Und selbst der Ausladung des lange unvollendeten Orson-Welles-Films „The Other Side of the Wind“, der sich im Netflix-Aufgebot befand, hat das Festivals etwas entgegen zu setzen. Zum Abschluss feiert Terry Gilliams seit 18 Jahren in Produktion befindliches Werk „The Man Who Killed Don Quixote“ Premiere. Erlebt Cannes in seiner 71. Ausgabe vielleicht doch kein Waterloo? Wie auch immer es ausgeht, hinterher wird es jeder wieder vorher gewusst haben, wie in Leonard Cohens Song: „Everybody Knows“.

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