Ein Selfie mit Flüchtlingen

Im Wettbewerb von Venedig: Andrew Haighs grandioser Neo-Western "Lean on Pete" und Ai Weiweis problematischer Dokumentarfilm zur globalen Fluchtbewegungen, "Human Flow".
Natürlich muss dieses Füllhorn irgendwann versiegen. Noch aber gibt es sie, die Leckerbissen, mit denen die ersten Tage so prall gefüllt waren. Selten hat ein Festival in den letzten Jahren derart aus dem Vollen schöpfen können wie Venedig, und besonders zahlt sich dabei die traditionell gute Beziehung zum amerikanischen Kino aus. Mit Annette Benning präsidiert zudem eine der angesehensten Hollywoodschauspielerinnen über der Jury, was für den bisherigen Favoriten, Altmeister Paul Schrader („First Reformed“), allerdings auch problematisch sein könnte – mitunter scheuen sich Juroren, ihre eigenen Landsleute auf das Schild zu heben.
Eine Alternative wäre der zärtliche, aber ungeschönte Blick eines Briten auf die USA, die Landschaften und die Einsamkeit des Mittleren Westens. Seit Wim Wenders’ „Paris Texas“ drehte, haben sich immer wieder Europäer den Mythen und der Ikonographie des amerikanischen Kinos angenähert und dabei auch dessen Geschichte fortgeschrieben.
Dem 44-jährigen Andrew Haigh gelang dies nun meisterlich mit der Verfilmung des Willy-Vlautin-Romans „Lean on Pete“. Auf den ausgetretenen Pfaden des Coming-of-Age-Genres gelingt ihm nicht weniger als die Seltenheit eines minimalistischen Epos, emotional aber niemals emotionalisierend. Es ist ein Film von jener bitteren Schönheit, für die der Amerikaner Terrence Malick einmal berühmt war, als er „Badlands“ oder „Days of Heaven“ schuf, aber das ist lange her.
Der 15-jährige Charley, der allein mit seinem Vater in Portland, Oregon, lebt, gerät bei einem Gelegenheitsjob in den Sog einer unbekannten Subkultur: Es ist die Backstage-Welt der Pferderennen, deren staubiges, halbseidenes Rückgrat Menschen wie der Trainer und Pferdehalter Del verkörpern. Steve Buscemi spielt ihn mit einsilbiger Direktheit, hart und dennoch fürsorglich genug, seinen schlecht bezahlten Schützling an einem entscheidenden Punkt zu warnen: „Du solltest etwas anderes tun, so lange noch Zeit ist. Ich mochte Pferde auch mal, weißt du?“
Keine Cowboys vor Sonnenaufgängen
In der zentralen Szene des Films erleben wir mit, wie sich der von Jungstar Charlie Plummer gespielte Stallbursche in das Pferd Lean on Pete verliebt und in diesen ersten Augenblick, in dem er in seinem Leben Anerkennung findet. Zugleich ahnen wir aber auch, dass es von dort aus nur noch abwärts gehen kann. „They Shoot Horses, Don’t They“, hieß einmal ein anderer, ähnlich bitterer Anti-Western.
Als das Pferd nicht mehr gewinnt und an einen mexikanischen Abdecker verkauft werden soll, reißt Charley mit ihm aus. Doch dies ist nicht die Sorte von Film, an dem einsame Cowboys ein schöner Sonnenaufgang erwartet. Das Pferd rennt vor ein Auto, der Junge, mittlerweile Waise, setzt seine Odyssee durch ein unwirtliches Amerika als Obdachloser fort.
Haigh, der vor zwei Jahren mit dem Berlinale-Beitrag „45 Years“ in den Rang eines Weltklasse-Regisseurs aufstieg, ist kein Freund der Übertreibung. Alles Melodramatische, das diesem Stoff innewohnt, spielt er so konsequent herunter, wie der alternative Country-Sänger Townes van Zandt seine verzweifelten Balladen sang. Was könnte einem Festival Besseres passieren, als neben allem mehr als vorzeigbarem Arthouse- und Kunstkino auch noch mit einem universell verständigen Gegenwartswestern aufzuwarten.
Die erste Enttäuschung im Wettbewerb wirkte dafür umso nachhaltiger. Der chinesische Künstler und politische Aktivist Ai Weiwei hatte mit der deutschen Produktion „Human Flow“ nicht weniger versprochen als ein umfassendes Dokument globaler Flucht- und Migrationsbewegungen. Doch wer die bisherigen Werke des Künstlers zu diesem Thema kennt, war vielleicht schon skeptisch: Als sich Ai Weiwei in der Position des toten syrischen Flüchtlingskinds Alan Kurdi 2015 an einem Strand fotografieren ließ, erinnerte er eher an einen gestrandeten Wal.
Auf Effekt gebürstet
Seine zahlreichen Auftritte in diesem Film sind kaum geschmackvoller. Immer wieder mischt er sich selbst in die dokumentarischen Bilder, auf Fluchtrouten, in Lagern, setzt sich mit der Botschaft „Ich respektiere Flüchtlinge“ ins Bild oder beschenkt eine junge Geflüchtete mit einem seiner Kunstkataloge.
Das an vielen Orten auf der Welt gedrehte Filmmaterial wirkt disparat und immer wieder auf Effekt gebürstet: Drohnenaufnahmen mögen imposante Massenszenen liefern, produzieren dabei aber eher eine technische als eine soziale Fotografie. Aus dem Zusammenhang gerissene, plakative Zeitungsschlagzeilen legen sich über die Bilder („Europa ist tot! Es lebe Europa!“). Die politischen Hintergründe zu erklären, überlässt der Regisseur weitgehend Mitarbeitern der Uno-Flüchtlingshilfe, unabhängige Helfer kommen seltener zu Wort.
Auch wenn der Künstler sich einerseits nicht scheut, ein totes Kind in einer Wüste bildfüllend zu zeigen, irritiert er immer wieder mit „humorvollen“ Einlagen. So lässt er etwa eine üblicherweise herauszuschneidende Aufnahme im Film, in dem sich ein afrikanischer UNHCR-Mitarbeiter vor dem Interview sein Hemd richtet und fragt: „Sehe ich gut aus?“.
Man muss nicht gleich, wie aus dem Publikum zu hören, von Rassismus sprechen, um sich gleichwohl zu fragen: Warum wird kein anderer Experte derart bloßgestellt?
Umso ungehemmter posiert der Filmemacher selbst, drängt sich wie zum „Selfie mit Flüchtlingen“ in seine Bilder. Völlig unkritisch begegnet er dabei der deutschen Flüchtlingspolitik. Repräsentiert wird sie nicht etwa durch überfüllte Sporthallen oder Baumärkte sondern durch ein Vorzeige-Lager wie das im Berliner Flughafen Tempelhof. In schicken Drohnen-Bildern zeigt es sich so aufgeräumt wie ein schwedisches Möbelhaus.