Im Ruhrgebiet von Kalifornien

Die Duisburger Filmwoche verabschiedet ihren Leiter Werner Ru?icka ? und ehrt den Dokumentar-Veteranen Rainer Komers.
Kunst und Wirklichkeit leben in Duisburg besonders nah beisammen. Wer ein Foto vom wunderschönen Lehmbruckmuseum machen möchte, kann sich leicht den Zorn der Wohnungslosen zuziehen, die den umgebenden Park bevölkern. Verständlich, dass sie nicht Kulisse spielen wollen. In der Ausstellung stand mir plötzlich eine wütende Frau aus dieser Gruppe gegenüber. Gegenüber dem Eingangspersonal hatte sie erklärt, dass ich sie ungefragt fotografiert hätte. Schnell ließ sich das aufklären, und doch bleibt die Situation bemerkenswert. Andernorts hätte man sie wohl ohne Karte gar nicht eingelassen.
Von der heilenden Kraft der Diskussion lebt auch die Duisburger Filmwoche seit nunmehr 42 Ausgaben. 34 davon hat Werner Ru?icka geleitet, am vergangenen Sonntag endete seine letzte. Der 71-jährige Dokumentarfilmexperte mit der Keith-Richards-Frisur ist ein legendärer Filmvermittler, gesegnet mit der seltenen Gabe, nicht viel erklären zu müssen. Hier und da eine pointierte Bemerkung und eine Prise freundliche Ironie reichen aus, um die anderen ins Gespräch zu bringen. Nach jedem Film folgt eine Debatte. Eine parallele Programmschiene gibt es nicht.
Dokumentarische Ethik ist untrennbar von dokumentarischer Ästhetik. Doch auch wenn jeder große Dokumentarfilm stets auch ein Kunstwerk ist, möchte das doch immer wieder erst bewiesen werden. Am leichtesten fiel das dem Gewinner des Arte-Dokumentarfilmpreises, Rainer Komers, der für seinen makellosen Essayfilm „Barstow, California“ wieder einmal ein Stückchen Ruhrgebiet im Ausland gefunden hat. In der provinziellen Kleinstadt, deren einzige Attraktionen eine Silbermine und ein militärisches Übungsgelände sind, mögen sich nicht mal die tumbleweeds, die Steppenläufer, malerisch durch die Mojavewüste rollen. Müde liegen sie da, während das eigentliche Ereignis aus dem „Off“ kommt: Es sind Zeilen aus der Autobiographie des lebenslänglich inhaftierten Spoon Jackson, der hier seine Jugend verbrachte. Vor 41 Jahren hat der Schwarze einen Weißen getötet, wohl ohne Vorsatz. In San Quentin lernte er später kreatives Schreiben.
Der selbst als Lyriker renommierte Komers, der bereits für eine Buchausgabe Jacksons Werke ins Deutsche übertrug, hat darauf verzichtet, Jackson in der Haft zu filmen. „Alles an einem Gefängnis ist erniedrigend, es ist nicht möglich, ein würdiges Bild aufzunehmen“, sagt er in der Duisburg in der nach jedem Film obligatorischen Diskussion. „Ich bin nicht Werner Herzog“, distanziert er sich, als eine Besucherin den Vergleich zieht. „Der filmt die Leute noch einmal und rekonstruiert ihre Verbrechen, bevor sie dann umgebracht werden.“
Landschaften, Detailansichten oder die Gesichter der Leute von Barstow, komponiert mit poetischem, nicht didaktischem Impetus, sind eine bessere Alternative. Was Komers nicht zeigt, legt er manchmal auf die Tonspur – wie das Geräusch der Gefängnistore oder des Militärareals. Schon Eisenstein empfahl diese kontrapunktische Methode (Ton: Michel Klöfkorn; Schnitt: Gregor Bartsch).
Der 74-jährige Komers zeigte schon Filme in Duisburg, bevor Werner Ru?icka das Festival leitete; zuerst als Kameramann für Klaus Wildenhahn. Sein Stil hat sich zwischen dem Dokumentarischen und der bildenden Kunst eine eigene Schneise geschlagen: eine Kamera-Lyrik ist näher an Robert Frank als an James Benning, mit dem er inzwischen oft verglichen wird. Seine Arbeiten sind im Ausland ungleich bekannter als hierzulande, und in Duisburg versteht man auch sofort, warum: Nur wenige Dokumentarfilmer haben die Ausdauer, sich den Rastern einer normativen Ästhetik zu entziehen, wie sie die deutschen Fernsehformate aufrecht erhalten. Ein Protagonist, den man nie sieht? Lange Einstellungen? Englischer Text? Kein Deutschlandbezug? ARD und ZDF halten sich aus sowas lieber raus.
In Duisburg haben es dagegen konventionelle Formate schwer, sich in den ungefilterten Diskussionen zu behaupten. Deutliche Kritik erntete die Kölner Hochschulproduktion „draußen“, in der die KHM-Absolventinnen Johanna Sunder-Plassmann und Tama Tobias-Macht vier Obdachlose porträtierten. Doch die stilisierten Inszenierungen der Schlafplätze, irreal ausgeleuchtet von der bedeutenden Kamerafrau Sophie Maintigneux, wirken aufgesetzt; die wie Museumsinstallationen arrangierten Habseligkeiten kunsthandwerklich.
Eine andere, nicht weniger interessante Debatte entzündete sich an Bettina Brauns Porträt einer rumänischen Familie, die in Dortmund in prekären Verhältnissen lebt, „Lucica und ihre Kinder“: Ist es legitim, eine Dokumentarfilm-Protagonistin – in diesem Fall in elendigen Verhältnissen lebende Mutter von sechs Kindern – zu bezahlen, wie im Film zu sehen? Selbstredend, möchte man einwerfen, wie wohl auch jede andere Arbeitsleistung im Kulturbetrieb. Doch so einfach ist das für die Regisseurin nicht: „Hätte ich ihr mehr als ein paar hundert Euro gegeben, hätte es keinen Film gegeben.“ Ist das nicht etwas dekadent? Die Armut erhalten, damit man sie filmen kann? Bettina Braun stimmt zu, ja, das müsse man.
Was für ein Dokumentarfilm-Dilemma, und die Duisburger Filmwoche ist sicher schon oft darauf gestoßen in den 34 Jahren er Ära Werner Ru?icka. Die meisten Filmfestivals in Deutschland werden inzwischen nicht mehr von Filmexperten geleitet, sondern von Managern und Managerinnen. Das wäre das Ende der Duisburger Filmwoche.