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Heute auf Arte: „Rückkehr nach Reims“ - eine Familiengeschichte als Film-Essay

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Von: Jendrik Walendy

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Auszug aus dem Dokumentarfilm „Fête de la voix de l‘Est“ über das gleichnamige Festival, das am 26. und 27. Juli 1958 in Lothringen stattfand.
Auszug aus dem Dokumentarfilm „Fête de la voix de l‘Est“ über das gleichnamige Festival, das am 26. und 27. Juli 1958 in Lothringen stattfand. © Ciné Archives/arte

Nach Jahrzehnten der Entfremdung von Familie und Herkunft reist Didier Eribon in seine Heimatstadt Reims - und blickt auf seine Familiengeschichte.

Frankfurt am Main - Ausgehend von Didier Eribons soziologischer Studie führt der Film „Rückkehr nach Reims“ heute Abend auf Arte durch eine Geschichte der Klassenunterschiede Frankreichs. Das Zurückkehren in seine Heimat bedeutete für Eribon, dessen Buch 2009 in Frankreich und 2016 in deutscher Übersetzung erschienen ist, nicht nur die Auseinandersetzung mit seiner persönlichen Vergangenheit, sondern auch ein Erforschen der Arbeiterklasse und deren politischer Transformation in den vergangenen Jahrzehnten.

Der Filmemacher Jean-Gabriel Périot hatte schon mit „Eine deutsche Jugend“, der sich mit der Studentenbewegung beschäftigte, einen Filmessay geschaffen, der seine Ausdruckskraft vor allem über die geschickte Montage von Archivaufnahmen gewann. Ähnlich geht er in seiner Annäherung an Eribons Buch vor, während auf der Tonspur der Text des Buches von einer Schauspielerin gesprochen wird. Im französischen Original, das in der Mediathek von Arte ebenfalls zugänglich ist, hat Adèle Haenel (aus „Porträt einer jungen Frau in Flammen“) diese Rolle übernommen. Für die deutsche Fassung auf Arte leiht Nina Hoss Eribon die Stimme, wie schon in Thomas Ostermeiers Inszenierung des Buches an der Schaubühne Berlin.

Heute auf Arte: „Rückkehr nach Reims“ - Klassenunterschiede bleiben außen vor

Während Haenels Sprechweise nüchterner und ihre Intonation näher an einer Alltagssprache bleibt, hört man bei Hoss mehr Pathos, durch die prononcierte Betonung aber auch mehr Distanz zum Text. Es ist eine doppelte Distanz, die der Film hiermit zur Vorlage schafft. Denn schon mit der Wahl einer weiblichen Schauspielerin setzt der Arte-Film „Rückkehr nach Reims“ andere Aspekte als das Buch, welches neben der soziologischen Abhandlung auch die autobiografische Emanzipation eines homosexuellen Intellektuellen von seinem Milieu erzählt. Dies lässt der Film genauso außen vor, wie die vom Autor beschriebenen Klassenunterschiede im akademischen Betrieb. Dass hier kein Versäumnis vorliegt, sondern eine bewusste Reduktion, darauf verweist schon der Originaltitel des Films, der den Zusatz „Fragmente“ enthält.

Périot konzentriert sich auf die Aspekte von Eribons Ausführungen, die sich auf die Eltern- und Großelterngeneration konzentrieren und damit im Milieu der Arbeiterklasse verbleiben. Diese war von harter Arbeit und der damit einhergehenden Zerstörung der Körper geprägt, die sich aus den gesellschaftlichen Unterschieden herleiten: „Das Wort ‚Ungleichheit‘ ist eigentlich ein Euphemismus. In Wahrheit haben wir es mit nackter, ausbeuterischer Gewalt zu tun.“ Diese Gewalt setzte sich aber auch in den Verhältnissen fort, die innerhalb der Arbeiterklasse und in den Familien herrschten, nicht zuletzt im Umgang der Männer mit ihren Frauen und Kindern: „Alles, was mein Vater war, was ich ihm vorzuwerfen und wofür ich ihn gehasst hatte, war von der Gewalt der sozialen Welt geformt worden“ heißt es hier über den Vater, der im Buch erst durch seine Abwesenheit die Rückkehr des Autors ermöglicht.

„Rückkehr nach Reims“ (Arte): Fragmente alter Reportagen

Im Film auf Arte wird der Fokus auf die weiblichen Lebenswege gelegt, auch das eine Erklärung für die Wahl einer weiblichen Sprecherin. Von den herrschenden Klassen wie den eigenen Männern unterdrückt, waren viele Frauen der Doppelbelastung als Arbeiterin und Mutter ausgesetzt. Dazu kam oft die Furcht vor ungewollten Schwangerschaften und deren Konsequenzen.

Schwangerschaftsabbrüche waren in Frankreich bis 1975 illegal. Welch fatale Folgen dies hatte, kann man in dem kürzlich auf Deutsch erschienenen Buch „Das Ereignis“ von Annie Ernaux nachlesen – eine Autorin, die schon seit langem Autobiografie und Klassenfragen zusammendenkt und für Eribon als Vorbild fungierte. Aber auch Périot betont diesen Aspekt nochmal, indem er Ausschnitte aus alten Reportagen zeigt, in denen Ärzte über die Folgen illegaler Abtreibungen sprechen und mit Schaudern von dem „Metallschrott in den Gebärmüttern“ erzählen.

„Rückkehr nach Reims“ (Arte): Es entsteht ein eindrückliches Panorama

Archivmaterial wie dieses verleiht dem Film seine Stärke und erweitert den gesprochenen Text ins Anschauliche. Neben Reportagen und Dokumentarfilmen werden hier auch Ausschnitte aus Filmen von Georg Wilhelm Pabst bis Jean-Luc Godard eingesetzt. So lässt der Film nachdenken über die mediale Inszenierung der Arbeiter:innen. Vor allem ermöglicht er, diese Menschen zu sehen und zu hören, anstatt nur über sie zu sprechen. Glücklicherweise hat Arte sich auch in der deutschen Fassung entschieden, diese Sequenzen im Original beizubehalten und lediglich zu untertiteln.

Damit können Sprechweisen erfahren werden, die heute nicht mehr existieren; es entsteht ein eindrückliches Panorama von den Gesten und Blicken, den Wohnquartieren und Arbeitsstätten, den Maschinen, Tapeten und Tischdecken der Arbeiterklasse des vergangenen Jahrhunderts. So bietet der Film ein Gegenbild zur gesellschaftlichen Entwicklung, wie Eribon sie beschreibt: „Was aus der politischen Repräsentation und den kritischen Diskursen verschwand, war nicht nur die Arbeiterbewegung mit ihren Kämpfen und Traditionen. Es waren die Arbeiter selbst: Ihre Kultur, ihre spezifischen Lebensbedingungen, ihre Hoffnungen und Wünsche.“

Zur Sendung

„Rückkehr nach Reims“ auf Arte, Dienstag, 23.11.2021 um 21:45 Uhr. Die Sendung im Netz.

Im letzten Teil des Films wird schließlich die Frage gestellt, warum die Arbeiterschaft als sichtbare soziale Klasse, aber auch als Verbund linker Interessen verschwunden ist und die Thesen des Buches in die Gegenwart erweitert. Eribon sieht den Rechtsruck in breiten Teilen der französischen Bevölkerung schon in dem „volkstümlichen Alltagsrassismus“ begründet, den er seit frühester Kindheit mitbekommen hat. Mit der Enttäuschung über die linke Mitterand-Regierung vollzog sich ein Abwandern ins rechtsextreme Lager von Jean-Marie Le Pen und dessen Front National. Dadurch fand auch eine Verwandlung der politischen Lagerbildungen statt, die statt Klassendifferenzen nun Fragen von nationaler Zugehörigkeit stellten.

Wieder einen linken Resonanzraum zu schaffen, in dem die Fragen der Arbeitenden verhandelt werden, anstatt den Rechten das Feld zu überlassen, fordert Eribon. Seine Hoffnung, dass sich durch gesellschaftliche Ereignisse, wie Streiks und Demonstrationen ein Umschwung herstellen lässt, beantwortet Périot mit einer Montage von öffentlichen Protesten, Gelbwesten- und Fridays for Future-Aktivist:innen, streikendem Pflegepersonal und antirassistischen Aktionen. Das plötzliche Einsetzen emotionaler Musik kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Film hier politische Kämpfe ineinander fallen lässt, in denen teils sehr unterschiedliche Positionen vertreten werden und durch deren Forderungen Ungleichheit auch verschärft werden könnte. Die Zuschauer:innen durch diese Bilder mit einem Schubs Richtung Aktivismus aus dem Film zu entlassen, mag man sympathisch finden – als Antworten auf Eribons Fragen scheinen sie aber zu kurz gegriffen. Der Film ist dort am eindrucksvollsten, wo er nicht versucht, in die Zukunft zu schauen, sondern die Vergangenheit ins Jetzt holt. (Jendrik Walendy)

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