Regisseur Carlos Saura: Tänze mit dem Surrealen

Zum Tod des spanischen Filmemachers Carlos Saura: „Carmen“ war sein Welterfolg.
Eigentlich hätte Carlos Saura am vergangenen Samstag bei der Verleihung der spanischen Goya-Filmpreise in Madrid für sein Lebenswerk ausgezeichnet werden sollen. Als sich der Gesundheitszustand des 91-jährigen verschlechterte, überreichte ihm die Akademie den Preis einige Tage zuvor zu Hause. Am Freitag ist der große Altmeister des spanischen Films gestorben, die Goya-Verleihung stand in Anwesenheit seiner Familie ganz im Zeichen eines Werks, das sieben Jahrzehnte umspannte.
Niemand sonst im spanischen Film spiegelte in seinem Werk wie er die gesellschaftlichen Veränderungen. Sein erster abendfüllender Spielfilm „Die Straßenjungen“ entstand bereits 1959, kam nach Zensurschnitten aber erst 1962 in die spanischen Kinos. Im Milieu junger Stierkämpfer ließ er Tradition und soziale Realität aufeinander treffen und entzauberte einen nationalen Mythos. Der Bruder des bedeutenden Malers Antonio Saura hatte zunächst eine Karriere als Fotograf angestrebt.
Es dauerte bis 2015 bis deutsche Verleger Gerhard Steidl der Qualität dieses Frühwerks in der Kleinbildfotografie mit dem Fotobuch „Vanished Spain“ Geltung verschaffte. Eine Begegnung mit dem spanisch-mexikanischen Regiekollegen Luis Buñuel beim Cannes-Festival 1960 eröffnete Saura neue künstlerische Perspektiven. Im Mikrokosmos der bürgerlichen Gesellschaft ließ er auf ein verkommenes und moralisch korruptes Gesellschaftssystem blicken („Die Jagd“, 1966). In Innenansichten erstarrter Familienstrukturen verfinsterte sich dieser Blick weiter, eröffnete aber zugleich mitunter befreiende Gegenwelten in Traum- und Erinnerungssequenzen.
Bei Franco-Sympathisanten
Zu seiner wichtigsten künstlerischen Begleiterin wurde in Sauras kreativster Schaffenszeit die Schauspielerin Geraldine Chaplin, mit der ihn auch eine langjährige Liebesbeziehung verband. Von „Peppermit Frappé“ (1967) bis „Mama wird 100 Jahre alt“ (1979) drehten sie neun gemeinsame Filme. In „Anna und die Wölfe“ spielt Chaplin die englische Kinderfrau für drei Mädchen in einer wohlhabenden Familie. Die drei erwachsenen Söhne ziehen sie dabei immer mehr in ihre von Katholizismus, Militarismus und unterdrückter Sexualität geprägten, missbräuchlichen Obsessionen. In „Cousine Angelica“ reflektiert Saura seine eigenen Kindheitserinnerungen aus der Zeit des spanischen Bürgerkriegs. Nach dessen Ende war er – von seiner Familie getrennt – bei Franco-Sympathisanten untergebracht. „Niemals habe ich verstehen können, warum über Nacht die Guten die Bösen waren, und die Bösen die Guten.“
Luis Buñuels Kino und wohl auch die Kunst seines Bruders mochten als Modelle dienen, auch in der Diktatur tabulos erzählen zu können – mit Mitteln des filmischen Surrealismus, den er mit „Züchte Raben“ (1976) an einen Höhepunkt führte. „Es ist die Geschichte eines Kindes, das besessen ist vom Tod“, erklärte er selbst dazu. „Oder, was dasselbe ist, besessen ist vom Leben.“ Geraldine Chaplin spielt die Rolle des erwachsenen Kindes und zugleich seine Mutter. Die Komplexität kindlicher Erinnerungen inspiriert eine einzigartige Mischung aus choreographierten und improvisierten Szenen – wie dem befreienden Tanz des Kindes zum Hitsong „Porque te Vas“ der Sängerin Jeanette.
Der Tanz war ein Thema von Sauras frühen Fotografien gewesen, in den 1980er Jahren machte er die von der zeitgenössischen Filmkunst vernachlässigte Form des Tanzfilms zu seiner ureigenen Spezialität. „Carmen“ wurde 1983 zu einem in Cannes prämierten, Oscar-nominierten Welterfolg. Auch wenn man diesmal nach einer tiefergehenden Auseinandersetzung einem spanischen Nationalmythos vergeblich suchte, war das Ergebnis mitreißend: Die verführerische Perspektive einer an einer Bizet-Bearbeitung laborierenden Tanzgruppe und Paco de Lucias Gitarren-Soundtrack inspirierten besonders ein junges Publikum. Vorausgegangen war die getanzte Lorca-Adaption „Bluthochzeit“ (1981), abgeschlossen wurde die Tanzfilm-Trilogie mit „Liebeszauber“ (1986).
In seiner zweiten Lebenshälfte hatte Saura mit Musikphantasien und -dokumentarfilmen ein neues Lebensthema gefunden. Sein jüngster Film, die persönliche Reise durch die Kunstgeschichte „Las paredes hablan“, hatte erst im vergangenen September beim San-Sebastián-Festival Premiere. Eine derart epische, wechselvolle Reise erlebt der Autorenfilm nur selten.