„Red Rocket“ im Kino: Das Leben als Donut

Sean Bakers visuell berauschende Tragikomödie „Red Rocket“ hinterfragt amerikanische Männlichkeitsideale.
Wie immer es auch dem Kino geht, eine Quelle scheint nicht zu versiegen. Jedes Jahr beweist das US-Independent-Kino mindestens ein halbes Dutzend Mal, wie man diese Kunstform für ein großes Publikum am sichersten am Leben erhält: Indem man sich noch einmal auf die uralten Pfade begibt; nur um sie dann ein winziges Stückchen weiter in die Wildnis zu treiben. Dahin, wo doch noch keiner war. Wenn man die Sache richtig angeht, folgen einem am Ende Hunderttausende in der Erwartung, dabei auf überraschende Abwege zu geraten.
Nur selten lässt sich unter jungen Deutschen, die Filme machen, der spezielle Ehrgeiz eines Regisseurs wie Sean Baker ausmachen. Nichts in seinem Werk schielt auf die Vorlieben von Redaktionen oder jenen, die Fördermittel herausgeben. Ihre Attraktionen finden seine Filme meist dort, wo es nicht viel kostet. Sein erster Film, „Four Letter Words“, erforschte die Sprache junger Männer; sein fünfter, die melancholische Komödie „Tangerine L. A.“, war der erste I-Phone-Film in Cinemascope. Danach entstand „The Florida Project“, sein feinster Film, der in die Lebenswelt von Kindern in einer Wohnsiedlung im Schatten von Disneyworld führte. Und nun also „Red Rocket“, sein erster, der es in den Wettbewerb von Cannes geschafft hat. Auf den ersten Blick ist es auch sein konventionellster, aber das hat mit der erwähnten Vorliebe des amerikanischen Kinos für die eigenen Traditionen zu tun.
Hier ist es die oft erzählte Geschichte der Heimkehr eines nicht mehr ganz jungen Mannes in die Stadt seiner Kindheit. Diese Antithese zur uramerikanischen Aufbruchsutopie liefert anderen tragikomisches Sentiment wie auf dem Silbertablett. Was die heimkehrenden Antihelden in der Midlife-Crisis in solchen Geschichten erwartet, ist meist reichlich ungewaschene Wäsche aus Teenagerzeiten.
Die Lücke im Lebenslauf
Hier liegt die Sache etwas anders, denn was Mikey Saber zu seinen Bewerbungsgesprächen mitbringt, ist eine 17-jährige Lücke im beruflichen Lebenslauf. In dieser Zeit hat er in Kalifornien als Pornostar Karriere gemacht, nicht ohne Stolz verweist er auf 900 Follower auf seinem Youtube-Kanal. Viel kaufen kann man sich dafür nicht in der texanischen Provinz.
Simon Rex, sein heute 47-jähriger Darsteller, weiß, was er da spielt. Bevor er in Filmen wie „Scary Movie“ auftrat, war er selbst in Pornofilmen zu sehen und machte sich als Model, Rapper und MTV-DJ einen Namen. Seine Filmfigur glauben wir als „beautiful loser“ schnell einordnen zu können, aber das ist nur der vertraute Pfad. Sean Baker porträtiert in dieser Tragikomödie einen unbeirrbaren Narzissten, harmlos auf den ersten Blick, aber von der Sorte, die ein Nein nie als Antwort nehmen kann.
Mikeys Überlebenskunst gründet in der Anhänglichkeit von Straßenhunden, und die ersten Opfer seiner Dreistigkeit sind seine noch nicht ganz geschiedene Exfrau Lexi (Bree Elrod) und ihre Mutter, mit der sie zusammenlebt (gespielt von der inzwischen verstorbenen Brenda Deiss: Die ehemalige Nasa-Sekretärin spielte hier ihre erste größere Filmrolle). Beide Frauen kennen den ungebetenen Gast gut genug, um auch seinen besten Absichten zu misstrauen.
Mehr Erfolg hat er bei der 17-jährigen Angestellten einer Donutbude, der er sich als Stammkunde andient. Es ist das Einzige in seinem neuen Leben, das es wenigstens an Regelmäßigkeit mit einem Beschäftigungsverhältnis aufnehmen könnte. Beide beginnen eine Beziehung, und am liebsten würde er ihr gleich unweit von Hollywood einen roten Teppich ausrollen: Im San Fernando Valley, wo er in der Pornobranche noch ein paar Eisen im Feuer hat.
Angesiedelt während des Trump-Wahlkampfs 2016 spielt „Red Rocket“ in einem Amerika der eng begrenzten Möglichkeiten. Klassische US-amerikanische Filme erzählten gerne von den Chancen der Outsider, aber auch in der Wüstenstadt Texas City ist ohne vernünftigen Schulabschluss kein Staat zu machen. Hinzu kommt, dass, anders als in den Tagen Errol Flynns, männlicher Charme und Attraktivität auch in Filmgeschichten kaum noch Türen öffnen.
Heute zu Recht geächtet
Im Gegenteil: Vieles von dem, was Mike Saber für unwiderstehlich hält, ist nicht erst seit „Me Too“ zu Recht geächtet als Übergriffigkeit. Sean Bakers Film lässt seinen alternden Schönling trotzdem bei jeder Gelegenheit mit seinen dubiosen Pfunden wuchern, und in der Beziehung mit der 17-Jährigen streift er ein Terrain, das im kommerziellen Hollywoodkino zu einem No-Go geworden ist. Aber natürlich kommt es immer darauf an, wie man eine solche Geschichte erzählt, ohne dabei wie in vielen heute muffig gewordenen Hollywoodklassikern Missbräuchliches zu romantisieren.
Es sind die weiblichen Nebenfiguren, die zu den komplexesten Charakteren aufsteigen – und dem Film die Liebenswürdigkeit geben, die er der Hauptfigur verweigert. Baker arbeitet mit Laiendarstellerinnen und Neuentdeckungen wie die Meister des italienischen Neorealismus. Erst die von Suzanna Son gespielte Donutverkäuferin Strawberry und Bree Elrods Lexi führen den Film weg von Slacker Movies im Stil der 90er über das endlose Verlängern einer verklärten Jungenhaftigkeit.
„Red Rocket“ wirkt wie eine späte Antwort auf die Filme, die Richard Linklater damals drehte, und wieder macht eine seltene Aufnahmetechnik ein visuelles Ereignis daraus: Es sind die leuchtenden Pigmente von 16-mm-Filmmaterial, das Baker mit einer Cinemascopeoptik zu echtem Breitformat ausbelichtet hat. Eine trügerische Weite, betörend in ihren lyrischen Unschärfen.
Red Rocket. USA 2021. Regie: Sean Baker. 130 Min.