Gut rasiert in den Tod

Philipp Kadelbach (Regie) und Stefan Kolditz (Drehbuch) haben sich an die Neuverfilmung von „Nackt unter Wölfen“ gewagt – und sich dabei auf die Überzeugungskraft des Ausstattungskinos verlassen.
Es ist die Zeit für Erinnerungen. Sie wird in der abstrusen Logik unserer Mediengesellschaft ja immer durch Daten bestimmt, und man hat das Gefühl: Je länger ein historisches Ereignis her ist, desto gewaltiger der Aufwand, es ins Gedächtnis zu rufen, nachzuerzählen. Dabei gilt aber auch: Je größer die Entfernung zum Anlass, desto unschärfer die Abbildung. Das ist bei einem Volksbildungs-Instrument wie dem Fernsehen naturgemäß besonders ausgeprägt, da die Redakteure und Produzenten immer meinen, vieles erklären zu müssen und zudem ein selbst definiertes Maß an „Zumutbarkeit“ anlegen.
Nun also 70 Jahre Kriegsende als das Medien- und Fernsehthema des Jahres. Dank jüngster wissenschaftlicher Forschungen, neu entdeckter Materialien bieten sich Geschichten in Hülle und Fülle an, und von einer Art, die dem Emotions-Beschleuniger Fernsehen wie gerufen kommt. Helden und Dramen aus den letzten Tagen des Krieges: Da ist die Tragik des Scheiterns ebenso wie das Thriller-Moment der „Last Minute-Rescue“ quasi programmiert, wenn man etwa an die Befreiung der Häftlinge aus den Konzentrationslagern denkt.
Nur: Konzentrationslager im Spielfilm – das geht eigentlich gar nicht. Stefan Kolditz, Drehbuchautor von „Nackt unter Wölfen“, hat in einer Talkshow das „Bilderverbot“ angesprochen. Das ja kein richtiges Verbot ist, sondern die gemeinsame Überzeugung vieler Filmschaffenden, dass sich das Grauen eben nicht so abbilden ließe, dass man denen, die es erlebt haben, gerecht werden könnte. Ein jüngeres Beispiel für den Verstoß dagegen war Stefan Rusowitzky mit seinem Film „Die Fälscher“. Dort ist er an der Darstellung des Konzentrationslagers gescheitert: Es wirkte alles zu sauber und glatt, was da zu sehen war.
Regisseur Philipp Kadelbach und sein Kameramann Kolja Brandt haben sich geschickter aus der Affäre gezogen, indem sie meist im Halbdunkel der Baracken filmen; vieles bleibt im gnädigen Schatten; zudem bevorzugt Brandt die halbnahe Einstellung, ist immer eng bei den Protagonisten, Und wenn es Szenen auf dem Appellplatz oder im „kleinen Lager“ gibt, verhindert die Distanz der Kamera, dass das Gemachte der Kulisse deutlich wird.
Das Vorbild dieser Neuverfilmung, Frank Beyers Arbeit von 1963, hat sich um Authentizität, was die Kulisse angeht, wenig gekümmert, da sehen die Baracken oder die Effektenkammer fast so aus wie Mutters Bügelzimmer in den Sechzigern. Aber die DEF-Produktion hatte natürlich nicht die Mittel, mit denen Produzent Nico Hofmann hier wuchern konnte. Es ist denn auch, wie andere Produktionen ähnlicher Größenordnung zuvor, etwa „Dresden“ oder „Unsere Mütter, unsere Väter“, ausgeklügeltes Ausstattungskino geworden – mit dem Kniff, dass diese Ausstattung möglichst nicht zu sehen sein soll. Um der größeren Authentizität (und der Spannung) willen werden immer wieder Dokumentaraufnahmen eingeblendet, versehen mit dem jeweiligen Datum.
Aber der zeitgemäßen technischen und ästhetischen Umsetzung des Themas vermag die Dramaturgie nicht zu folgen. Es ist eine zunächst unglaubliche Geschichte, die Bruno Apitz, ehemaliger Häftling des Männer-Lagers Buchenwald, in seinem Buch „Nackt unter Wölfen“ erzählt hat: Ein dreijähriger Junge wird von einem polnischen Häftling in das Lager geschmuggelt – versteckt in einem Koffer. Als er entdeckt wird, beginnt unter den Männern eine Diskussion über sein Schicksal. Die einen wollen ihn loswerden, die anderen sich um ihn kümmern. Ihr Argument: Sie begäben sich ihrer Menschlichkeit, wenn sie den Knaben nicht zu retten versuchten. Aber da ist neben den allzeit zu Mord bereiten Wachmannschaften noch eine andere Instanz, die geheime Widerstandsgruppe im Lager, die den Buben als Gefahr für den Erfolg des geplanten Aufstands betrachtet.
So entfaltet Autor Kolditz nun eine Debatte um die Bewahrung der Humanität unter extremsten Bedingungen, es geht ihm um den Antagonismus zwischen „größter Grausamkeit und größter Empathie“. Dabei hat er den Stoff leicht anders gefärbt als beim Vorbild Apitz, wo die kommunistischen Kader etwas besser wegkamen (weshalb das Buch zur Pflichtlektüre der Schulkinder in der DDR wurde). Hier wird der junge Widerständler Pippig zum mutigen Retter des Kindes, wobei Florian Stetters Augen immer etwas zu stahlblau blitzen. Das Lager scheint bei ihm keine sichtbaren Spuren zu hinterlassen; und am Ende liegt er wohlrasiert im Staub des Lagers.
Die Rollen sind bei Kolditz alle etwas zu klar verteilt, vom Feigling über den Chef des Widerstands (Thorsten Merten) bis hin zur grauen Eminenz der Lagerleitung, beängstigend dämonisch gespielt von Sabin Tambrea. Doch so wie er immer etwas zu demonstrativ ins Bild gerückt wird, so wie der halbwüchsige Häftling, der seinen Vater retten will, zu häufig dazwischengeschnitten wird, damit es auch der letzte Zuschauer merkt, dass er Verrat begehen wird, so konventionell ist die Dramaturgie eben bisweilen.
Gleichwohl vermögen Kameramann und Regisseur ein hohes Maß an emotionaler Spannung zu erreichen, sie scheuen auch nicht vor drastischen Szenen zurück, zeigen Folter und Mord. Aber als ob sie ihrer eigenen Inszenierung nicht trauten, lassen sie zuletzt alle Hemmungen fallen und greifen tief in die Kitsch-Kiste. Wenn die Sonne bei der Befreiung triumphal hinter den Wolken hervorkommt, wenn das Kind am Ende mit seinen Fingerchen die Hand seines Retters sucht, wird der Taschentuch-Verbrauch der Zuschauer vermutlich stark steigen. Aber unter Tränen trübt sich eben auch der Blick auf die Historie.
„Nackt unter Wölfen“, ARD, Mittwoch, 1. April, 20.15 Uhr.