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„Piaffe“ im Kino: Die Musik der Pferdehufe

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Von: Daniel Kothenschulte

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Der Regisseur und die (noch) überforderte Einspringerin: Bjørn Melhus und Simone Bucio in „Piaffe“.
Der Regisseur und die (noch) überforderte Einspringerin: Bjørn Melhus und Simone Bucio in „Piaffe“. © Verleih

Zwei der schönsten deutschen Kunstfilme seit langem kommen in die Kinos, Ann Orens „Piaffe“ und Angela Schanelecs „Music“. Die Sorge um die Filmkultur aber ist noch nicht vorbei.

Blickt man diese Woche ins Programm, könnte man glauben, das deutsche Kino könne alle Sorgen vergessen. Ann Orens „Piaffe“ und Angela Schanelecs „Music“ bieten die Auswahl zwischen gleich zwei kompromisslosen Filmen, die bei ihren Festivalpremieren in Locarno und Berlin international gefeiert wurden. Die ansteckende Freiheit, die sie ausstrahlen, ist die logische Folge der Freiheiten, die sich diese Künstlerinnen selbst genommen haben, um sie so zu machen, wie sie sind.

War es nicht einmal selbstverständlich, dass ein Autorenfilm, der auf sich hält, auch ästhetisch eigene Wege geht? In einer reichen Filmkultur funkeln die radikalen Perlen des künstlerischen Films in einer Umgebung der vielfältigen Genres. Neben dem Kunstvoll-Populären wie Ilker Çataks nachdenklichem Schuldrama „Das Lehrerzimmer“ (siehe Besprechung nebenan) und dem nur Populären, das den Kinos aber volle Häuser bringt (zur Zeit ist das – überschattet von der Kritik an den Arbeitsbedingungen – Til Schweigers Millionenhit „Manta Manta zwo“). Erst an dieser Vielfalt erkennt man eine gesunde Filmlandschaft – aber gesund bedeutet eben auch: ohne Ausbeutung und Selbstausbeutung.

Die „Piaffe“ ist ein Begriff aus der klassischen Reitsportkunst, auf die auch Tierschützer wie der unvergessene Filmessayist Horst Stern nichts kommen ließen. Das Traben auf der Stelle galt stets als gesund für das Pferd. Zügel gelten dabei als unnötig, weil das Tier die Übung von alleine macht. Der Film, der diesen Titel trägt, tritt selbst in kunstvollen Variationen auf der Stelle: Als betörend-sinnliche Choreographie aus körperlicher und fotografischer Bewegung, aus Tönen und den zarten, lebenden Farben, die Kodaks 16-mm-Film noch immer selbst der unscheinbaren Gegenwart entlockt.

Schon in ihren Videoarbeiten, die auch akustische Kunstwerke sind, sät und erntet die aus Israel stammende Berlinerin Ann Oren auf den brachliegenden Äckern des filmischen Surrealismus. Dies ist ihr erster Spielfilm, gedreht mit kleinem Budget, aber entsprechend unabhängig von den Erwartungen Dritter. Im Mittelpunkt steht eine junge Frau namens Eva, gespielt von der Mexikanerin Simone Bucio, die sich als Geräuschemacherin für einen Werbefilm mit einem Pferd versucht. Sie vertritt dabei ihre Schwester (Simon*e Jaikiriuma Paetau), die sich in einer psychiatrischen Klinik aufhält. Der ideale Rhythmus zwischen Bild und Ton findet sich nicht von selbst. Wütend verweist sie der Regisseur (hinreißend ironisch gespielt von Videokünstler Bjørn Melhus) an die Natur, worauf sie pflichtschuldig die Vierbeiner studiert. Dabei wächst ihr selbst ein Pferdeschwanz am Steißbein, begleitet von einer neuen sexuellen Empfindsamkeit.

Aber auch das Kino selbst möchte sinnlich erfahren werden. Der Besuch eines Kaiserpanoramas, dieses karussellförmigen Guckkastens aus der Zeit der Jahrhundertwende, repräsentiert das Medium in seinen peepshowhaften Kinderschuhen. Auch dessen Bewegung ist ein Kreisen auf der Stelle, aber von einer unbestimmten Dynamik zwischen den Zeiten – und vielleicht ein Ort unverbindlicher Begegnung.

In dem ähnlich ätherischen Charakter eines Botanikers (Sebastian Rudolph) findet Eva das, was in der Hollywoodschule des Filmemachens „love interest“ heißen würde. Selten hat man im Kino eine so freie, undefinierte Erotik gesehen. Zugleich ist es einer der schönsten Berlin-Filme, der vernachlässigte Denkmäler wie die Hufeisensiedlung im Stadtteil Britz zum Strahlen bringt. Was für ein Geschenk: Wäre Maya Deren, die große amerikanische Avantgardepionierin, noch am Leben, dann machte sie wohl einen Film wie diesen. 1943 begründete sie in „Meshes of the Afternoon“ den modernen Kunstfilm mit der Entdeckung, dass Filme Choreographien für die Kamera sind.

Auch Angela Schanelec ist eine Choreographin mit der Kamera, eine Virtuosin in Pantomime und Musikalität. Und wie Deren findet sie Inspiration in europäischen Mythen und pflegt eine Filmkultur, die ihre Wurzeln noch im Stummfilm hat. In einer kargen griechischen Insellandschaft beginnt ihre Variation von Motiven zu Ödipus und zu Orpheus. Ein Findelkind wächst auf, ohne seine Eltern zu kennen. Als junger Mann wird dieser Jon für den tragischen Tod eines anderen ins Gefängnis geschickt, wo sich eine Wärterin in ihn verliebt. Einmal lösen sie gemeinsam ein Kreuzworträtsel: Ein anderes Wort für Spiegel wird gesucht, es ist der Traum. Jean Cocteau hat dem Kino das bleibende Bild für diese Schnittstelle zwischen Diesseits und Jenseits geschenkt, in seinem „Orphée“.

Hier ist er eine ferne Assoziation ebenso wie Pasolinis „Edipo Re“. Jede Einstellung dieses Films führt einmal mehr bei dieser Regisseurin auf einen traumhaften Weg, in einen poetischen Schwebezustand. Ist die Frau, die er im Gefängnis trifft und die schließlich ebenfalls den Tod findet, seine Mutter? Das langsame Erblinden des Helden gibt nach dem Mythos dafür den entscheidenden Hinweis – zugleich aber erlebt er mit jedem Einbruch von Tragik auch eine glückliche Verwandlung und singt – verkörpert vom kanadischen Folk-Countertenor Aliocha Schneider – wie Orpheus.

Schneiders betörende Musik führt den Film im letzten, in Berlin angesiedelten Akt in eine neue Richtung – oder besser gesagt, sie bringt zum Ausdruck, was man schon die ganze Zeit gefühlt hat. „Das Kino, das ist unsere Musik“, raunte Jean-Luc Godard aus dem Off in seinem vorletzten Kinofilm „Unsere Musik“ (der letzte hat in wenigen Wochen in Cannes Premiere). Was er damit meinte, waren die grenzenlosen Ausdrucksmöglichkeiten einer neuen, universellen Sprache, die erst durch die Montage bewegter Bilder erschlossen worden sind.

Lange hat es in Deutschland so ausgesehen, als habe der radikale unabhängige Film, wie ihn Oren und Schanelec repräsentieren, kaum noch eine Chance im Schatten des weit aufwendiger geförderten Mainstreams. Tatsächlich macht man dem künstlerischen Film das Leben schwer. Christian Petzolds zur Zeit in den Kinos gezeigtem Film „Roter Himmel“ verweigerte die Deutsche Filmakademie die Nominierung beim Filmpreis.

Schanelecs „Music“, der auf der Berlinale den Silbernen Bären für die beste Regie erhielt, wurde in der vergangenen Woche nun von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien die Verleihförderung „für die Verbreitung deutscher Filme mit hoher künstlerischer Qualität“ versagt. In einer Mitteilung des Verleihs heißt es dazu: „Während ‚Music‘ in der Produktion noch von der Filmförderung der BKM unterstützt wurde, sah die Jury der Verleihförderung in diesem Film offenbar keine künstlerische Qualität und verweigerte die Vergabe der Förderung.“ Zugleich werden in diesem Jahr Netflix-Serien und Hollywoodproduktionen wie „Die Tribute von Panem 5“ mit Millionen öffentlich gefördert. Aber das ist eine andere Geschichte.

Piaffe. D 2022. Regie: Ann Oren. 86 Min.

Music. D 2023. Regie: Angela Schanelec. 108 Min.

Die Musik des Gefängnis-Ping-Pong in „Music“.
Die Musik des Gefängnis-Ping-Pong in „Music“. © SYSTEM

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