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„Nomadland“ im Kino: Die Wahrheit ist der bessere Realismus

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Von: Daniel Kothenschulte

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Frances McDormand als Fern in einer Szene des Films „Nomadland“.
Frances McDormand als Fern in einer Szene des Films „Nomadland“. © dpa

Chloé Zhaos meisterhaftes Sozial-Panorama „Nomadland“ mit Frances McDormand kommt nun endlich ins Kino.

Schon ein dreiviertel Jahr ist es her, dass Chloé Zhaos „Nomadland“ vom Festival Venedig aus seinen Siegeszug um die Welt antrat. Neuerliche Corona-Lockdowns konnten den Erfolg nicht aufhalten, der mit der Oscar-Verleihung im vergangenen April seinen Höhepunkt erreichte. Auch wenn dieser fragile Film über die ungeschützten Existenzen moderner Wanderarbeiter noch vor der Pandemie entstand, wird er wohl noch lange von dieser Zeit erzählen: Wie ein Vergrößerungsglas des Teufels hat die Pandemie besonders dort gewütet, wo die soziale Not ohnehin bereits am größten ist. Gut möglich, dass dennoch bald niemand mehr vom Leid der Alten und der Armen spricht, weil sich die Strukturen des Sozialsystems eben nur sehr langsam ändern.

Die Bilder von „Nomadland“ aber werden bleiben. Nicht zuletzt, weil viele der Menschen, die hier am Tellerrand des Kapitalismus ihr Auskommen fristen, für Amazon schuften – jenen Handelsriesen, der zu den großen Gewinnern der Corona-Zeit zählt.

Aber auch in künstlerischer Hinsicht laufen in „Nomadland“ einige wichtige Fäden dieser Zeit zusammen. Noch bevor sich in Deutschland die Debatte über das Dokudrama „Lovemobil“ entzündete, verstand sich der von Frances McDormand produzierte Film als künstlerisch umformte Wirklichkeit. Der Einsatz der filmischen Mittel ist dabei unmissverständlich. In der Tradition der Filmsprache des italienischen Neorealismus eines Roberto Rossellini treffen Laien- und Profischauspieler klar erkennbar aufeinander.

Es ist die Verfilmung eines Sachbuchbestsellers – Jessica Bruders Reportage über die neue US-amerikanische, aus Armut geborene Camperkultur mit den Mitteln eines Spielfilms. Bruder verwendete eine Art Günter-Wallraff-Methode und mischte sich selbst im Wohnmobil unter die zu Nomaden gewordenen Wirtschaftsverlierer. Viele der Geschichten dieser Menschen, die sich nicht obdachlos, „homeless“, sondern lediglich „hauslos“ nennen, hört man nun aus erster Hand; die chinesisch-amerikanische Regisseurin Chloé Zhao lässt diese oft im späten Lebensalter Entwurzelten sich selber spielen. Hauptdarstellerin Frances McDormand, die den Film auch produzierte, verwandelt sich dagegen mit den Mitteln professioneller Schauspielkunst in die ehemalige Fabrikarbeiterin Fern.

Nur wenige Monate, nachdem ihre Arbeitsstätte im ländlichen Nevada dicht gemacht hat, ist auch die Postleitzahl des kleinen Ortes gelöscht. Amerika bewegt sich, von der Öffentlichkeit kaum beachtet, in eine zweite Große Depression. Wanderarbeiter und -arbeiterinnen, wie sie John Steinbeck in „Früchte des Zorns“ beschrieb, campieren heute vor Amazons Versandzentren – einem Schauplatz von „Nomadland“.

Die dokumentarischen Elemente, die erlebten Geschichten und die Landschaften des Mittleren Westens sind zum Teil von großer Wirkungsmacht. Eine sterbenskranke Nomadin etwa schwärmt von den Glücksmomenten ihres erfüllten Lebens – und meint damit die Sichtung einer Elchfamilie und eines Schwalbenschwarms. Diese Geschichte ist allein als Erzählung von solcher Kraft, dass es der späteren Nachinszenierung nicht mehr bedarf: Wenn Frances McDormands Filmfigur dann selbst zu den Schwalben reist, wird daraus nur die Illustration von Wirklichkeit.

Dokument und Inszenierung finden allerdings nicht immer zusammen. McDormand wirkt eher wie eine einfühlsame Interviewerin, eine Art sensiblere Ausgabe von Michael Moore, als eine Gleichgestellte. Doch man muss diesem Prinzip des Filmemachens auch zu Gute halten, dass es die Grenzen zwischen Dokument und Inszenierung immer durch Brüche sichtbar macht. Das ist wirklich das Prinzip, das Roberto Rossellini anwandte, als er den Hollywoodstar Ingrid Bergman mit Laiendarstellern in seinem Sozialdrama „Stromboli“ besetzte. Es entsteht eine Bruchstelle zwischen der fotografierten und der inszenierten Wahrheit. Was bleibt, ist die Frage, wie beides zu gewichten ist.

Einmal singt einer der Nomaden einen Folksong, den man gern gehört hätte, aber die Regisseurin legt nach ein paar Takten lieber ein emotionalisierendes Klavierstück des Filmkomponisten Ludovico Einaudi darüber. So nimmt sie der Wirklichkeit ein Stück Wahrheit wieder weg, anderseits schützt sie aber auch den Raum der Kunst als eine distanzierende Ebene. Frances McDormand ist Anker- und Schwachpunkt des Films zugleich, ihre Szenen treten in Konkurrenz zur Authentizität, die Regisseurin Chloé Zhao um sie herum einfängt.

Haushoch rangiert „Nomadland“ dennoch über den Standards des semidokumentarischen Filmschaffens. Jeder Filmschaffende, der sich im Grenzbereich zwischen Dokument und Fiktion bewegt, wird ganz Erstaunliches an diesem Film entdecken können. Mit welcher Würde inszeniert Zhao die Laiendarstellerinnen und -darsteller, die stets komplexe Persönlichkeiten, nie nur Funktionsträger oder gar bloße Opfer sind. Für die Filmemacherin selbst ist es übrigens ein deutscher Filmemacher, zu dessen Werk sie in Krisen immer wieder zurückkommt, wie sie bei der Oscarverleihung bekannte: Wenn sie nicht weiter wisse, dann schaue sie noch einmal nach, wie es Werner Herzog wohl gemacht hätte.

Nomadland. USA 2020. Regie: Chloe Zhao. 110 Min.

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