„Könnte uns auch passieren“: Baerbock redet Klartext bei Lanz

Markus Lanz diskutiert in seiner ZDF-Talkshow am Mittwoch (01. Juni) über den Ukraine-Krieg und die Masseninternierung der Uiguren in China.
Hamburg – Auf dem „Bashing-Stuhl“ neben Markus Lanz wurde diesmal Carsten Linnemann (CDU) platziert - und nachdem er ihn mit einer Aussage von Anja Maier („Der wirkt wie der Sohn von Friedrich Merz“) vorgestellt hatte, befürchtete man schon, er würde diesen Abend an ihm seine mittlerweile schon zur Peinlichkeit verkommene Wadenbeißer-Attitüde ausleben.
Aber dann kam alles ganz anders – auch weil Annalena Baerbock (Die Grünen) gleich einen verbindlich-staatsfraulichen Ton anschlug und Klartext redete: „Wir müssen einen langen Atem haben und uns darauf einstellen, dass der Krieg noch lange dauern kann, bis die Ukraine wieder in Freiheit und Frieden leben kann.“
Lanz versucht sie mit Olaf Scholz‘ (SPD) gestriger Rede vor dem Bundestag aus der Reserve zu locken: „Wie frustriert sind Sie eigentlich, dass alles so langsam geht? Liegt das Problem im Kanzleramt, wo einer 100 Tage lang schweigt, um dann heute diese detaillierte Aufzählung von an die Ukraine gelieferten Waffen zu verkünden, zu denen Ende Juni noch 60 Jahre alte DDR-Panzer aus Griechenland kommen sollen, die offensichtlich eher auf den Schrottplatz als aufs Schlachtfeld gehören.“
Baerbock spricht bei Markus Lanz über den Ukraine-Krieg: „Das könnte auch uns passieren“
Auch da kontert Baerbock souverän mit der solidarischen Zusammenarbeit der betroffenen Ministerien und erklärt nochmal die Ringtausch-Idee, die Griechenland nun modernere Marder-Panzer aus Bundeswehr-Beständen beschert und den ukrainischen Soldaten Panzer, die sie ohne Zusatz-Ausbildung einsetzen können.

Auf Lanz´ Frage, ob man die Ukraine nach der Annexion der Krim durch Russland nicht bis an die Zähne hätte bewaffnen müssen, gibt sie freimütig das Versagen des Westens und der Nato zu, die untätig zugeschaut haben, wie Russland aufrüstet. Das Ergebnis hat sie hautnah bei ihrem Besuch in Butscha erfahren, wo sie mit den Gräueltaten der russischen Armee konfrontiert wurde: „Das läßt niemanden kalt, das könnte auch uns passieren.“
„Wie kann man unter solchen Umständen mit einem wie Ihrem russischen Amtskollegen Sergei Lawrow verhandeln, der einen ständig anlügt“, will Lanz wissen. Und Baerbock liefert ein Kabinettstückchen erstaunlich schnell verinnerlichter Diplomatie: „Erstens habe ich ihn vor meinem Besuch in Butscha getroffen und zumindest war sein „Guten Morgen“ nicht gelogen.“
CDU-Politiker lobt Annalena Baerbock bei Markus Lanz: „Das genaue Gegenteil von Olaf Scholz
Aber die Außenministerin hat auch Handfestes im Gepäck: 450 Millionen Euro stellt die Bundesrepublik an humanitärer Hilfe der Ukraine zur Verfügung und unterstützt den Internationalen Gerichtshof mit der Entsendung von acht Richtern, um die Kriegsverbrechen der russischen Armee in der Ukraine aufzuklären. Und sie erinnert noch einmal daran, dass sie Nordstream 2 schon immer für ein ausgesprochenes Machtinstrument gehalten und abgelehnt habe.
Carsten Linnemann ist geradezu begeistert von Annalena Baerbock, lobt ihre klare Linie : „Sie ist das genaue Gegenteil von Olaf Scholz. So wollen die Bürger das.“ Als Lanz ihn mit einem Wechsel zu den Grünen foppt, kontert er schlagfertig: „Da muss die Parteipolitik einmal außen vor bleiben.“
Und einmal in Fahrt entpuppt sich der gelernte Volkswirt als jener Reformer, den man eigentlich in der Regierungskoalition erwartet hätte. Linnemann unterstützt die Kartell-Idee des italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi zur Lösung der Öl-und Gas-Lieferungen: „Die Kunden tun sich zusammen und bestimmen so den Preis.“ Und seiner Befürchtung mit einer anhaltenden Inflation die Mittelschicht in die Armut hinunter zu ziehen, will er damit begegnen, sich mit Hilfen auf die zu konzentrieren, die es wirklich nötig haben.
Diskussion bei Markus Lanz im ZDF: Chinas „systematsicher Völkermord an den Uiguren“
Lanz ist geradezu begeistert von Linnemanns „fatalem Hang zur Ehrlichkeit“ und fragt sich, was sein Parteivorsitzender wohl zu seinen Ideen sagen würde. Linnemanns überzeugte Antwort: „Friedrich Merz sieht das auch so.“ Aber ehe dieses Fass aufgemacht wird, wendet sich die Runde dem Thema zu, das uns in den letzten Tagen genauso erschüttert hat, wie Putins Krieg:
„Xi Jinpings systematischen Völkermord an den Uiguren“, wie es der ZDF-Korrespondent Ulf Röller mit Verweis auf die gerade veröffentlichten Xinjiang Police Files beschreibt. „Deren Daten“, so „Spiegel“-Redakteur Christoph Giesen, „haben wir penibel recherchiert, konnten unter den Telefonnummern Polizisten in den Umerziehungslagern erreichen, haben ins Ausland geflohene Angehörige der Inhaftierten aufgespürt.“
Röller berichtet von Kindern in Xinjiang, die von ihren Eltern erzählen, die schon seit vier Jahren interniert sind: „90% der Kinder sind praktisch Waisen.“ Schier unglaublich auch die Strafen: Sechs Jahre Haft für einen 18-Jährigen wegen zwei Wochen Training in einem Fitness-Studio, was ihm als Vorbereitung einer terroristischen Tat ausgelegt wurde. Ein 23-Jähriger wurde verurteilt, weil er als 7-Jähriger religiöse Schriften gelesen hatte und eine Frau bekam 16 Jahre Gefängnis wegen Störung der öffentlichen Ordnung.
Erstaunliche Talkrunde bei Markus Lanz: Diskussion über den Ukraine-Krieg und China im ZDF
Für Lanz eine Ungeheuerlichkeit, dass VW inmitten dieses kulturellen Genozids eine Produktionsstätte betreibt. „Und das auch noch in einem praktisch unnützen Werk, in dem nur Teile aus einigen anderen der insgesamt 33 Werke in China zusammengeschraubt werden“, wie Giesen recherchiert hat.
Markus Lanz, Sendung vom 1. Juni
Hier können Sie die Talkshow im ZDF in der Mediathek anschauen
Jetzt kommt auch noch mal Anja Maier, an der die Diskussion bisher vorbeigelaufen war, zu Wort: „Was sollen wir tun, dass das nicht nur ein emotionaler Aufschrei bleibt?“ Und sieht zumindest im vom Grünen Robert Habeck geleiteten Wirtschaftsministerium ein Licht am politischen Horizont: Das hat nämlich deutschen Unternehmen für Investitionen in China Bürgschafts-Garantien verweigert. Ein Novum in der deutschen Politik.
Auch Röller sieht Möglichkeiten: „Wir haben Einfluss, vieles läuft zur Zeit schlecht in China. Sie brauchen unsere Technologie. Andererseits glauben sie an ihre größere Leidensfähigkeit und unsere Angst. Letztlich ist es ein offenes Rennen.“ Das wir aber auch annehmen müssen: „Warum dürfen chinesische Firmen bei uns eigentlich Brücken bauen, unsere Unternehmen bekommen in China aber keinerlei Aufträge?“ bringt es Linnemann auf den Punkt – und verlässt wider Erwarten ohne Waden-Blessur die erstaunlich harmonische und informative Talkrunde! (Rolf-Rüdiger Hamacher)