Stell dir vor, du wurdest vergewaltigt - und niemand glaubt dir

In der Netflix-Serie „Unbelievable“ beschäftigt sich die Polizei nicht mit der Aufklärung einer Vergewaltigung – sondern ermittelt gegen das Opfer und dessen Glaubwürdigkeit. Die Serienkolumne „Nächste Folge“.
„Ich wurde vergewaltigt“. Der erste Satz der Netflix-Serie „Unbelievable“ steigt an einem Punkt ein, auf den andere Erzählungen erst hinarbeiten. Die Überwindung, diese Worte überhaupt laut auszusprechen, ist kein Teil dieser grausamen Geschichte.
Marie Adler (Kaitlyn Dever) ist sich ja schließlich sicher. Sie weiß um das Verbrechen, das ihr widerfahren ist, und will es zur Anzeige bringen. In der Nacht ist ein Mann in ihre Wohnung eingebrochen, hat sie bedroht, gefesselt und vergewaltigt. Marie vertraut sich ihren Pflegemüttern und Freund*innen an, der Fall wird von der Polizei untersucht.
Von Beginn an, ist die Tendenz der Polizisten, Marie in Zweifel zu ziehen. Es gebe schließlich keine Spuren und ihre Aussagen stimmen nicht zu Einhundert Prozent miteinander überein. Viermal fordern die Beamten eine Beschreibung der Tat von der verstörten 18-Jährigen. Immer und immer wieder soll sie das Verbrechen schildern – bis die Ermittler glauben, endlich einen Widerspruch entdeckt zu haben. Die Polizei beschäftigt sich gar nicht mit der Aufklärung des Verbrechens – sondern ermittelt gezielt gegen das Opfer und dessen Glaubwürdigkeit.
„Unbelievable“: In Maries Fall ermitteln ausschließlich Männer
Und dann sind da noch Maries Pflegemütter, die beide nicht so recht glauben können, dass ihr ehemaliges Pflegekind wirklich vergewaltigt wurde. Sie wäre ja schließlich so schwierig gewesen und hätte ja immer schon nach Aufmerksamkeit gelechzt. Für die Beamten steht nun fest: Diese Vergewaltigung hat nicht stattgefunden. Sie bedrohen und verunsichern Marie solange, bis sie verzweifelt unter Tränen unterschreibt, dass sie nicht vergewaltigt wurde.
In Maries Fall ermitteln ausschließlich Männer. Und diese Tatsache spielt in der Serie eine Rolle. Denn sie betrachten die Vergewaltigung nicht als ein Verbrechen, das von einem Opfer angezeigt wird, sondern sehen – was auch in Gesprächen deutlich wird – die Gefahren, die eine solche Anzeige für Männer birgt.
Erst Jahre später wird Marie Gerechtigkeit widerfahren. Der Täter hatte – ohne Spuren zu hinterlassen – in verschiedenen Polizeibezirken und Bundesstaaten fünf weitere Frauen überfallen und vergewaltigt. Überführt wird er schließlich von zwei Kommissarinnen, Karen Duvall (Merritt Wever) und Grace Rasmussen (Toni Collette). Anders als die männlichen Polizisten in Maries Fall, hören Duvall und Rasmussen den betroffenen Frauen unvoreingenommen zu. Sie fragen behutsam nach – einmal, nicht immer wieder. Sie weisen auf Hilfsangebote hin und erkundigen sich später, ob es den Frauen gut geht.
„Unbelievable“: Geschichte ist wahr
Die in der Netflix-Serie „Unbelievable“ erzählte Geschichte ist wahr. Die True Crime-Produktion basiert auf dem mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Artikel „An Unbelievable Story of Rape“ aus dem Jahr 2015 der Journalisten T. Christian Miller und Ken Armstrong über eine Vergewaltigungsserie in den Bundesstaaten Washington und Colorado.
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Ist Maries ruiniertes Leben nach der ihr unterstellen „Falschaussage“ nun aber eine Abschreckung für Vergewaltigungsopfer, das an ihnen begangene Verbrechen zur Anzeige zu bringen?
Zum Teil, da die Serie nicht leicht zu ertragen ist und so fesselnd erzählt, dass man die Nichtaushaltbarkeit von Maries Situation bis ins Mark spürt. Viel wichtiger ist aber, dass die Serie das Thema in die Öffentlichkeit rückt.
Wir leben in einer Welt, in der reflexhaft auf einen Vergewaltigungsvorwurf mit Zweifel reagiert wird. Das Weib ist wankelmütig und unglaubwürdig, hat es doch mindestens provoziert, wenn nicht sogar gewollt. Und dann schwebt immer der Mythos der Falschbeschuldigung im Raum. Verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt: Der Anteil der Falschbeschuldigungen an tatsächlich angezeigten Vergewaltigungen variiert zwischen zwei und acht Prozent. Es ist eine Frechheit, dass so häufig erstmal von einem so unwahrscheinlichen Fall ausgegangen wird. Dieser Reflex zeigt den tiefgreifenden Sexismus in unserer Gesellschaft, die hier eindeutig der Sicht und dem Wohl des Mannes den Vorzug gibt.
Aus all diesen Gründen sind Vergewaltigungsopfer immer in der grotesken Situation, erst einmal abwägen zu müssen, ob die Tat überhaupt glaubwürdig genug ist. Die Netflix-Serie „Unbelievable“ leistet Aufklärungsarbeit, beleuchtet verfehltes Polizeiverhalten und macht der Gesellschaft die unwürdigen Umstände bewusst, denen Vergewaltigungsopfer ausgesetzt werden.