Musiklehrerin und Ökoterroristin

Benedikt Erlingssons "Gegen den Strom" bricht mit Konventionen.
Der Kurzschluss in einer Hochspannungsleitung legt die Stromversorgung Islands lahm, und das ist geradezu eine Metapher für diesen Film. Denn ein solcher Kurzschluss unterbricht den normalen Lauf der Dinge, er zerstört die Routine, das Licht geht aus, die Industrie steht still, auf dem Herd wird das Essen kalt. Stille und Dunkelheit setzen ein, ganz besonders auf Island, der nebelverhangenen Insel aus Feuer und Eis. Und vielleicht nutzt mancher die Zeit und denkt nach. All das, so könnte man meinen, wären gute Voraussetzungen, damit wir endlich dem Klimawandel begegnen.
Die Frau, die den Kurzschluss verursacht, heißt Halla. Sie streift mit Pfeil und Bogen durchs isländische Hochland und bremst mit einem präzisen Schuss auf die Stromleitung die Produktion einer Aluminiumhütte. Wie eine moderne und gleichzeitig archaische Mischung aus Amazone und Jeanne d’Arc führt sie gegen das naturvernichtende Werk einen einsamen Kampf.
Es ist von beträchtlicher Spannung und Turbulenz, wie Regisseur Benedikt Erlingsson diese Anschläge inszeniert. Mit Verfolgungsjagden zu Wasser, an Land und in der Luft, mit einem gewaltigen sportlichen Pensum, das Hauptdarstellerin Halldóra Geirhardsdottir absolviert, und mit überraschenden Verstecken, die sie in letzter Sekunde findet. Dennoch ist ihre Halla keine Heldin in einem astreinen Actionfilm. So wendet sich das Blatt bereits in der Szene nach der atemlosen Flucht der Umweltaktivistin, wenn sie in ihrem anderen Leben ankommt. Da steht sie als Chorleiterin vor ihren Schäfchen und tupft mit aparten Gesten Tonhöhen in die Luft. Eine durch und durch normale, auf unspektakuläre Weise hübsche, äußerst nette, zugewandte und nicht mehr ganz junge Frau. Durch die Adoption eines Waisenkindes aus der Ukraine hofft sie zudem, bald Mutter zu werden.
Natürlich kommen sich die beiden Hälften dieses Lebens allmählich in die Quere, doch es ist weniger die kriminalistische Enttarnung der Musiklehrerin als Ökoterroristin, an der Erlingsson gelegen ist, sondern die moralische Dimension ihres Tuns. Wie zum Beispiel verhält sich das Generalziel Hallas, Mutter Erde zu retten, zu ihrem anderen, ebenfalls mütterlichen Vorhaben, durch die Adoption nur eine einzige Seele vor dem Untergang zu bewahren? Hallas Einsatz für die Umwelt ist heroisch und notwendig, doch das Vorhaben ist so gewaltig, dass sie allein daran scheitern muss – aber sie kann allein die ukrainische Waise retten, und ausgerechnet diese Chance bringt sie in Gefahr.
Erlingsson entfaltet solche Fragen freilich nicht im Stil eines Lehrstücks von Brecht, wobei er durchaus auf dessen Entfremdungseffekt zurückgreift. So kommt die Musik des Films von zwei Ensembles, die jeweils im Bild zu sehen sind. Bei dem einen handelt es sich um drei Vokalistinnen, die in ukrainische Tracht gekleidet sind; das andere besteht aus drei Instrumentalisten, die kernig Tuba, Schlagzeug und Akkordeon bedienen. Ihr Auftritt verleiht den Szenen etwas Bühnenhaftes, der rustikale Charakter der Musik gar weckt Assoziationen an Volkstheater und Schelmenstück. In jedem Fall bricht die Integration der Musiker ins Geschehen auf ebenso wunderbar überraschende Weise mit filmischen Konventionen wie die Kaltschnäuzigkeit, mit der Erlingsson Action und Komödienstadl vereint.
Wobei es überhaupt nicht seine Absicht ist, Versatzstücke aus Genres zu zitieren. Vielmehr schafft „Gegen den Strom“ eine eigene, originäre Form, die in der Schwebe zwischen Realismus und Theaterwirklichkeit in der Lage ist, politische Kritik ebenso unterzubringen wie isländische Folklore und Mythen: Halla geistert bald als „Bergfrau“ durch den öffentlichen Diskurs, ein Phantom, dessen wahre Identität nur einem schwergewichtigen Bauern bekannt ist, der ihr ritterlich beisteht. Dass er sich als Hallas „vermutlicher Cousin“ zu erkennen gibt und beherzt amouröse Vorstöße macht, ist dabei als kleiner Verweis auf den überschaubaren Genpool Islands zu verstehen.
Es ist ein komplexes Bild, das Erlingsson auf diese Weise zeichnet, und ein ebenso komplexer Charakter, den er mit Halla erschafft. Die unbedingte Pflicht zum Klimaschutz, die sie nachfolgenden Generationen gegenüber verspürt, verleitet sie sogar dazu, an der Demokratie zu zweifeln, die schwerfällig in Gewohnheiten steckt – wo endet bei dieser Frau das Engagement, so beginnt der Fanatismus? Und welches Risiko geht sie für sich selber ein?
Dass Erlingssons Herz für die isländische Natur schlägt, lässt sich nicht übersehen. Das Hochgebirge, die einsamen Weiten, die vom Landschaftsverbrauch der Aluminiumhütte bedroht sind, haben es ihm angetan – ja, die Natur spielt eine eigene Hauptrolle in „Gegen den Strom“, weil ihr Geheimnis und ihre Schönheit Mahnung sind. Dass Halla diese ernst nimmt, ehrt sie und entbindet sie dennoch nicht von der Frage, wie ihre Selbstermächtigung politisch und moralisch zu rechtfertigen ist. Ein Dilemma, das der Film nicht lösen will, weil er es gar nicht kann. Aber so konsequent darauf zuzusteuern und es in dieser Klarheit vor Augen zu führen, ist eine außerordentliche Leistung.
Gegen den Strom. Island / Frankr. 2018. Regie: Benedikt Erlingsson. 101 Min.