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Leben, nicht existieren!

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Von: Marc Hairapetian

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Martin Eden (Luca Marinelli, Mi.) möchte seine proletarische Herkunft hinter sich lassen und beginnt sich für den Sozialismus zu interessieren.
Martin Eden (Luca Marinelli, Mi.) möchte seine proletarische Herkunft hinter sich lassen und beginnt sich für den Sozialismus zu interessieren. © Francesca Errichiello

Pietro Marcellos meisterhafte Jack-London-Verfilmung „Martin Eden“ ist am 12. Mai auf Arte zu sehen.

Frankfurt - „Ich glaubte, es wäre ein Abenteuer, doch in Wirklichkeit war es das Leben.“ Dieser Satz stammt zwar von Joseph Conrad, doch er trifft zu 100 Prozent auf Jack London zu. Der am 12. Januar 1876 in San Francisco als John Griffith Chaney geborene und 22. November 1916 im kalifornischen Glen Ellen geborene Tausendsassa war Tramp, Goldsucher, Seefahrer, Fischpirat, Fotograf, Journalist, Sozialist und Schriftsteller. Und im letzteren Fall einer der besten, den die Vereinigten Staaten von Amerika bis heute vorgebracht haben. Weltberühmt wurde er durch seine mehrfach verfilmten Abenteuerromane „Ruf der Wildnis“ (1903), „Wolfsblut“ (1906), „Der Seewolf“ (1904), „Lockruf des Goldes“ (1910), „Jerry der Insulaner“ oder „Michael, der Bruder Jerrys“, das ein ebenso leidenschaftliches wie ergreifendes Plädoyer für den Tierschutz ist und erst postum publiziert wurde.

Um seinen Tod ranken sich Legenden: Jack London starb im Alter von nur vierzig Jahren auf seiner Farm im Sonoma County. Die früher weithin vertretene Auffassung, er habe seinem Leben selbst ein Ende gesetzt, gilt heute als umstritten. Vieles spricht für eine Harnvergiftung als Todesursache: Der Meisterschriftsteller litt in den letzten Lebensjahren an einer Niereninsuffizienz und hatte sich zuvor wegen anderer gesundheitlicher Probleme bereits mehreren Operationen unterziehen müssen. Möglicherweise trug auch seine Alkoholkrankheit oder das schmerzlindernde Morphi zu seinem Tod bei. Auch die Behandlung von Geschwüren mit Quecksilberpräparaten während seiner Segeltour in Polynesien könnte zu seinem Ableben beigetragen haben. Für einen Selbstmord könnte hingegen sprechen, dass London in seinen letzten Jahren an Depressionen litt, wofür es neben autobiografischen Zeugnissen auch mehrere Belege Dritter gibt. In seinem Buch „König Alkohol“ (1913) wie auch in anderen Erzählungen wird wiederholt berichtet, dass er unter Einfluss von Spirituosen mehrmals versucht habe, sich das Leben zu nehmen.

Pietro Marcello verfilmt „Martin Eden“ von Jack London

Sein autobiografischer Schlüsselroman „Martin Eden“ (1908), der seinen Kampf um den Zutritt zur Welt der Literatur und den mühseligen Weg zum erfolgreichen Schriftsteller aufzeigt, lässt offen, ob er den Freitod wählt. Er sagt seiner großen Liebe Ruth Morse, die Mabel Applegarth (1874–1915), einer Studentin aus vermögenden Verhältnissen nachgestaltet ist: „Ich habe mich nicht verändert. Ich habe immer noch keinen Job, und ich werde auch künftig keinen Job suchen. Und ich glaube immer noch, dass Herbert Spencer ein großer und edler Mensch und Richter Blount ein absoluter Esel ist.“ Martins Liebe zu Ruth ist erloschen: „Es ist zu spät. Ich bin ein kranker Mann - nein, nicht mein Körper. Es ist meine Seele, mein Hirn. Ich scheine alle Werte verloren zu haben. Mir ist alles egal.“

Es gibt vier Verfilmungen von „Martin Eden“: Bereits 1914 entstand unter der Regie von Hobart Bosworth eine Verfilmung, an der Jack London sogar noch mitgearbeitet hat und in der er auch zu sehen ist. 1942 folgte „The Adventures of Martin Eden“ mit Glenn Ford in der Titelolle. In den zwei letzten Verfilmungen, erstaunlicherweise sind beide italienische Adaptionen, wovon die erste eine 358 Minuten lange Co-Produktion mit dem ZDF ist, die 1979 in vier Teilen ausgestrahlt wurde, setzt Eden, alias London, seinem Leben selbst ein Ende: In Giacomo Battiatos epischer Version ist Eden (der mit nur 47 Jahren an Lungenkrebs verstorbene Christopher Connelly) in den Augen von Ruth Morse (Delia Bocardo) und ihrer Familie „nicht gesellschaftsfähig“. Aber das schert ihn nicht mehr. Die gewaltigen Anstrengungen des Schriftstellerberufs haben ihm jegliche Vitalität und Lebensfreude genommen. Die erträumte Welt des Erfolgs erscheint ihm jetzt falsch, kleinlich und vulgär. Resigniert sticht er mit einem Schiff in See in Richtung Tahiti, wo er fernab der verhassten Gesellschaft Englands einen Neuanfang wagen will. Unterwegs wird ihm allerdings zunehmend klar, wie ausweglos sein Dasein geworden ist. Es überkommt ihn eine ständig wachsende Todessehnsucht. Eines Nachts geht er auf hoher See heimlich von Bord, um den letzten Kampf seines Lebens zu bestehen - den Kampf gegen sein für ihn unerträglich gewordenes Leben.

Und in Pietro Marcellos preisgekrönter 2019er-Variante, die am 12. Mai (14.15 Uhr) noch einmal bei Arte zu sehen ist, schaut in der Schusseinstellung der von Luca Marinelli (Coppa Volpi 2019 als „Bester Darsteller“ bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig) mit großer physischer Präsenz, aber auch introvertierten Momenten verkörperte Star-Schriftsteller, der des Lebens müde geworden ist, einer Gruppe von Männern beim Diskutieren am Strand zu, bevor er ins Wasser geht. Für die Selbstmord-Hypothese Londons gibt es Indizien: „Lieber will ich ein prächtiger Meteor sein, in dem jedes Atom herrlich glüht, als ein langlebiger, verschlafener Planet“, schrieb er einmal, „Die wahre Aufgabe eines Menschen ist es, zu leben, nicht nur zu existieren. Ich werde meine Tage nicht dazu verschwenden, sie zu verlängern. Ich werde meine Zeit nutzen.“

Wie dem auch sei. Bei Marcello heißt Martin Eden zwar Martin Eden, aber aus Ruth Morse wird Elena Orsini (Jessica Cressy), weil sein Film nicht in den USA und Großbritannien, sondern in „Bella Italia“ spielt. Auch wenn Alessandra Abates und Francesco Di Giacomas Bilder an impressionistische Gemälde erinnern, ist der Film wie eine farbige Fortführung des Neorealismus fotografiert. Immer wieder werden Nahaufnahmen von Arbeitern gezeigt, wie sie schuften, lachen, leben und sterben, denn Martin Eden ist einer von Ihnen. Er möchte aber seine proletarische Herkunft hinter sich lassen. Hierzu versucht er, das Herz einer jungen Frau aus der oberen, gebildeten und kultivierten Schicht zu erobern - besagter Elena Orsini. Auch wenn er sein eigentliches Ziel, ein erfolgreicher Schriftsteller zu werden, erreicht, zerstört ihn der zunehmende Individualismus, aber auch der Kapitalismus des 20. Jahrhunderts. Hieran kann auch die Begegnung mit dem an Tuberkolose leidenden Philosophen Russ Brissenden (Carlo Cecchi in einer seiner staksten Rollen) nichts ändern, durch die er begonnen hatte, sich mit den Formen des Sozialismus zu beschäftigen. Er wird dabei zu einem leidenschaftlichen Anhänger der Thesen von Herbert Spencer (27. April 1820 in Derby - 8. Dezember 1903 in Brighton), der als Erster die Evolutionstheorie auf die gesellschaftliche Entwicklung anwendete und als Vorläufer des Sozialdarwinismus gilt.

„Martin Eden“: Pietro Marcellos Film erstarrt nicht in Schönheit

Pietro Marcellos Film erstarrt somit nicht in Schönheit, obwohl Luca Marinelli und auch die Frauen in seinem Leben wie Jessica Cressy und vor allem Denise Sardisco als Kellnerin, die Martin Eden instinktiv versteht, sehr schön sind. Immer wieder fallen markige Sätze wie „Lieber ein lebendiger Penner als ein toter Sklave“ oder „Die neapolitanischen Arbeitenden haben gezeigt, dass sie nicht Sklaven der Kapitalisten sind.“ Ein aalglatter Anwalt, mit dem Orsinis Eltern Elena verheiraten wollen, kontert zynisch in einem brillanten Streitgespräch Edens revolutionäre Ansichten: „Es gibt keinen Gott außerhalb des Unbekannten und Herbert Spencer ist sein Prophet.“ Insofern bietet die Neuverfilmung von „Martin Eden“ politisch ambitioniertes Unterhaltungskino auf hohem intellektuellem Niveau. Bezüge zum Kommunismus in Italien versus des Superkapitalismus eine Silvio Berlusconi liegen auf der Hand. Gekonnt springt Pietro Marcello in den Zeiten hin und her, mal ist die Szenerie Anfang des 20. Jahrhunderts angesiedelt, dann wieder im Italien der 1970er Jahre. Passend dazu ertönt Italo-Pop, der unfassbarer Weise sehr gut zu Jack Londons „ Martin Eden“ passt. Denn im Grunde seines Herzens ist der von Luca Marinelli kraftstrotzend und sensibel zugleich interpretierte Titelheld ein echter Romantiker. Kurz bevor er mit der zurückhaltend umworbenen Elena endlich zusammenkommt, gesteht er ihr nämlich seine Liebe: „Ich bin für die Büroarbeit nicht gemacht. Ich gehe gern auf Reisen. Ich bleibe nie an einem Ort. Ich würde heute schon losfahren, wenn es nicht einen Grund gäbe, der mich zurückhält.“ Elena: „Liebst du mich?“ Martin: „Vom ersten Tag, als ich dich sah.“ Elena: „Ich habe noch nie geliebt.“ Martin: „Gut, dann lernen wir es zusammen.“

Die darauffolgende Kussszene zwischen Marinelli und Cressy erinnert in ihrer geradezu gewagten Intimität an Elizabeth Taylor und Montgomery Clift in George Stevens Meisterwerk „Ein Platz an der Sonne“ (1951). Auch eine Geschichte von einem aus einfachen Verhältnissen stammenden Aufsteiger, der wie Ikrarus hochsteigt, um sich dann die Flügel an der Sonne zu verbrennen. Am Ende eröffnet er der früher so Angebeteten, die ihn vergeblich zurückgewinnen will, als er ein erfolgreicher Schriftsteller geworden ist: „Das Leben ekelt mich an Elena. Ich habe einmal so intensiv gelebt, dass ich jetzt überhaupt nichts mehr brauche.“ Kein Happy End also für Martin Eden und Jack London, nachdem der am 2. Mai 1976 entdeckte Asteroid (2625) und ein See im Fernen Osten Russlands benannt sind. Aber die Gewissheit für den Zuschauer, neben Wolfgang Staudtes und Sergiu Nicolaescus ZDF-Vierteilern „Der Seewolf“ (1970/71, Titelrolle: Raimund Harmstorf) und „Lockruf des Goldes“ (1975, Elam Harnish: Rüdiger Bahr, der auch 1979 das Drehbuch zu Londons „Killeny, der singende Hund“ schrieb) die beste Leinwandadaption seiner Werke gesehen zu haben. (Marc Hairapetian)

„Martin Eden“

 Freitag, 12. Mai, 14.15 Uhr (Arte)

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