"Die Linke, was heißt das noch mal?"

Die französische Politserie "Baron noir" ist ein präziser Spiegel des Zeitgeists im europäischen Superwahljahr.
Sein Markenzeichen ist dieser Blick: leicht von unten, über enorme Tränensäcke, durchaus offen und entwaffnend scheint er wie nach einem tiefen Seufzer ausdrücken zu wollen: „Was soll ich sagen? Es ist, wie es ist.“ Der Blick eines politischen Realisten, der in seinem kleinen, von der Modernisierung gebeutelten Reich Dünkirchen bereits alles gesehen hat, was die Politik zu bieten hat: Arrangements mit der Partei, den Gewerkschaften, der lokalen Wirtschaft und alltäglichen Verrat aus taktischen oder persönlichen Motiven. Philippe Rickwaert (Kad Merad) heißt dieser Provinzfürst (frz. „baron“) der Parti Socialiste (der zufälligerweise Martin Schulz frappierend ähnlich sieht), und er vereinigt in sich die Fähigkeit zum bulligen Zupacken und eine erstaunliche Sensibilität, die nicht nur seine präzisen politischen Einschätzungen, sondern auch seine persönliche Erotik der Macht glaubhaft werden lässt. Der Mann ist ehrgeizig, aber fast sieht es so aus, als habe er sich in „Dünkirchen als geistiger Lebensform“ behaglich eingerichtet und wolle lieber ein Cäsar am Ärmelkanal sein als ein Parteibürokrat in Paris.
Bis die Mechanismen des politischen Betriebs sich auf einmal gegen ihn wenden: Der mit seiner Hilfe frisch gekürte französische Staatspräsident Francis Laugier (charismatisch: Niels Arestrup) nutzt die Gelegenheit, seinen alten Weggefährten über ein eher geringfügiges Budgetdefizit politisch kaltzustellen und bei der Zusammenstellung seines Kabinetts zu übergehen. In der guten alten Tradition der modernen Politserien bestimmt nun einzig der Gedanke an Vergeltung Rickwaerts Handeln („Hass ist in der Politik besser als irgendein Diplom“ lautet sein politisches Credo).
Die erste Staffel von „Baron noir“ begleitet seinen Versuch, seinen von der Arroganz der Macht affizierten Kameraden Laugier zu Fall zu bringen und dabei an seinem eigenen Aufstieg zu arbeiten. Kommt einem dieser Plot vage bekannt vor (Referenzpunkt: „House of Cards“), so spricht für „Baron noir“, dass es schneller beschleunigt, von weiter unten bis in die höchsten politischen Höhen trägt und insgesamt näher am Menschen erzählt ist – ein „House of Cards“ für die Graswurzelbewegung. Natürlich bleibt Rickwaerts persönliche Mission nicht ohne Auswirkungen auf seine familiäre und politische Umgebung. Die korrumpierende Macht der Politik ergreift sie alle: die Gewerkschaftsvertreter vor Ort, seine großäugig dreinblickende Tochter, die sich in jeglicher Hinsicht (auch politisch) in der Pubertät befindet, schließlich sogar seine engste politische Weggefährtin.
Sehr gut gelingt es der Serie, eine Innenaufnahme der Volkspartei PS mit all ihren Widersprüchlichkeien zu präsentieren: die Flügelkämpfe, die gestörte Kommunikation zwischen (idealistischer) Basis und abgehobener Führung, die lauernde Angst vor dem Verlust der politischen Glaubwürdigkeit für ein immer unberechbareres Wählervolk (der Front National kann die morsche Festung jederzeit sturmreif schießen).
In einem der zentralen Handlungsstränge dieser ersten Staffel wird ein Lieblingsthema linken Selbstverständnisses, chancengerechte Bildungspolitik, zum Spielball in einem äußerst zynischen Quidproquo, bei welchem niemand gut aussieht: nicht Laugier und Rickwaert, nicht die jungspundigen Führer der PS-Jugendorganisation und auch nicht der merklich überforderte Vorkämpfer für gesellschaftliche Inklusion mit Migrationshintergrund. Hier wird ein hochkomplexes, in der europäischen Politik virulentes Thema packend und glaubwürdig erzählt – Kompliment an die Showrunner der Serie, Eric Benzekri und Jean-Baptiste Delafon.
Einmal wird von Rickwaert die Frage aufgeworfen: „Die Linke, was soll das eigentlich heißen?“ Wir begegnen einem Homme politique, dem sein politischer Kompass lange verloren gegangen ist und für den das alte linke Dilemma „solitaire/solidaire“ früh bedeutungslos geworden ist, sowie einem aufgeblähten Parteiapparat, der unmittelbar vor der Implosion steht. Mit enormem Sarkasmus werden die Idee „Europa“ und das Europa der Reglements gegeneinander ausgespielt.
Ein wenig eindimensional bleiben die konservative Opposition (blasse Controller-Typen) und die lieben Deutschen, zu denen der Serie nicht mehr einfällt als das Klischee der humorlosen Erbsenzähler, die durch strenge Austeritätspolitik die schönsten Blütenträume des französischen Deficit spending zunichtemachen. Dennoch: „Baron noir“ ist die politische Serie der Stunde für alle, die im europäischen Superwahljahr 2017 intelligent und spannend unterhalten werden möchten.