Dies widerlegt später Lanz anhand von einer Grafik, wo die Zahl der Corona-Opfer hierzulande mit 1975 pro eine Million Einwohner aufgeführt wird, während es bei den Skandinaviern mit 2275 nicht wesentlich mehr sind. Auch Prantl schüttelt über Lauterbach den Kopf: „Ich sehe es völlig anders: Wir haben in den letzten drei Jahren am offenen Herzen der Demokratie operiert!“ Lanz unterfüttert dessen Aussage, indem er Aufnahmen einspielt, wo Menschen, die sich im Park nicht an Schutzmaßnahmen wie Ausgangssperren in Zeiten von Lockdowns gehalten haben, von Polizeiautos regelrecht gejagt werden: „Es war ein Regelungsexzess!“
Gäste bei Markus Lanz | |
---|---|
Agnes Genewein | Ärztin (Vorständin der Hannoverschen Kinderheilanstalt) |
Markus Grill | Gesundheitsexperte und Investigativjournalist (NDR/WDR) |
Karl Lauterbach | SPD-Gesundheitsminister |
Heribert Prantl | Journalist (SZ) |
Er kritisiert vehement Exekutive, Legislative und Judikative in der Bundesrepublik. Vor allem das Bundesverfassungsgericht habe sich bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung viel zu stark zurückgehalten: „Das war nicht mehr mein Staat!“ Lauterbach hebt verzweifelt die Hände:. „Wenn man Sie so reden hört …“ Man habe mit den durchaus drastischen Maßnahmen über eine Million Menschenleben gerettet. Das soll etwa nicht richtig gewesen sein?
Daraufhin will Markus Lanz wissen, wie viele Menschen hierzulande in den letzten drei Jahren tatsächlich an Corona gestorben seien. „Circa 180.000“, kann Lauterbach eine ziemlich genaue Zahl nennen. Doch Prantl lässt nicht locker: Mit den überzogenen und zum Teil unsinnigen Maßnahmen „haben Sie die Querdenker mit groß gezogen!“ Lauterbach findet, obwohl er ansonsten den Journalisten schätzt, das sei „ein haltloser Vorwurf“. Gewissenhaft habe er mit seinem von ihm zusammengestellten Expertenteam alle Daten ausgewertet und daraufhin die Maßnahmen angeordnet.
„Nach bestem Wissen und Gewissen ist bestimmt richtig, ob wir nie übertrieben haben, ist die andere Frage“, versucht Lanz, seinem Job als Moderator gerecht zu werden. „Wie gut sind wir in der Peripherie?“, setzt jetzt Ärztin Genewein ein und fordert klipp und klar: „Wir brauchen im Krankenhaus nicht überall Masken!“ Das Personal sei durchgeimpft und somit immunisiert worden. Außerdem habe sich das Virus verändert. Lauterbach kommt ihr hier entgegen. Die Pflicht, in Krankenhäusern und Pflegeanstalten weiterhin Masken zu tragen, würde bald abgeschafft. Er bittet aber um Verständnis, noch kein konkretes Datum zu nennen, denn er müsse darüber erst einmal mit den einzelnen Bundesländern einen Konsens erzielen.
Investigativ-Spezialist Grill, der zusammen mit Kolleginnen und Kollegen den Skandal um fingierte Schnelltest-Abrechnungen sowie die Geldverschwendung bei der Maskenbeschaffung und beim Aufbau von Intensivbetten aufdeckte, schießt nun auch gegen Lauterbach: „Sie haben mit der Rhetorik der Angst gearbeitet!“ Lauterbachs bei Twitter und Instagram gepostete Voraussagen mit Hochrechnungen wie 10.000 Corona-Toten, wo in Wirklichkeit in besagtem Zeitraum 700 starben, seien zum Teil grob fehlerhaft gewesen. Ein Mediziner, der auch Gesundheitsminister sei, dürfe gegenüber einem Patienten nicht unbegründete Angst schüren: „Ein Arzt und ein Politiker sollen nicht mit Angst operieren. So funktioniert Wissenschaft nicht!“ Lauterbach habe in seinem Expertenteam aus „Virologen und Modellierern“ lauter „Scharfmacher“.
„Was fehlte, waren Experten für die Belange von Kindern“, räumt der an diesem frostigem Winterabend vielfach Gescholtene ein. Er gibt damit das Stichwort für Dr. Genewein, die mehr Einsatz von Sozialmedizinern im Expertenrat in solchen Fällen und eine Mitbestimmung der Ärzte in den Krankenhäusern fordert: „Nicht alles zentral bestimmen, sondern lokal denken lassen ermöglichen!“ Absolut plausibel! Der Gastgeber spielt dann Interview-Auszüge, die er mit Nils Anders Tegnell geführt hat, der von 2013 bis 2022 Staatsepidemiologe der schwedischen Behörde für öffentliche Gesundheit (Folkhälsomyndigheten) war und längere Zeit für keine Quarantäne bei Heimkehrern aus Risikogebieten plädierte, wie auch Schließungen von Kindertagesstätten, Grundschulen, Geschäften, Restaurants und Grenzen ausschloss, aus seiner Sendung „Markus Lanz – Schweden ungeschminkt“ vom 11. März 2021 ein. Peinlicher Weise lobt er sich selbst: „Eine immer noch sehenswerte Reportage!“ Bei seinem Statement „In Lappland gab es nie Corona-Probleme“, kann man ihm aber schwerlich widersprechen. Genauso wenig, wenn er sagt, bei Corona-Maßnahmen sollten Politiker und Wissenschaftler mit „Überzeugung arbeiten und nicht mit harten Regeln“.
Lauterbach hatte aus der Ferne immer wieder Tegnells Corona-Schutzempfehlungen kritisiert, räumt aber nun neben den zeitweise Schließungen von Schulen und Kitas in Deutschland auch ein: „Joggen mit Maske – das sind Exzesse gewesen!“ Prantl ist diese Form von Selbstkritik nicht genug: „Sie hätten die Aufarbeitung stärker betrieben sollen!“ Lanz findet dann auch die Ankündigung fast aller Spitzenpolitiker vor der Bundestagswahl, dass es keine Impfpflicht geben würde, und den schnellen Widerruf danach „nicht geschickt“: „Das kostet unendlich viel Glaubwürdigkeit!“ Prantl sieht es ähnlich: „Grundrechte sind Grundrechte, weil sie grundsätzlich wichtig sind.“ Bei so viel Gegenwind knickt gar ein Lauterbach ein. Er stimmt zu, dass derlei Entscheidungen künftig mehr im Parlament stattfinden müssten, anstatt Einzelgänge durchzudrücken. Er beharrt aber darauf, dass alles, was sein Expertenrat von sich gegeben habe, sofort schriftlich veröffentlicht worden sei: „Da müssen Sie zugeben, dass ich sofort gehandelt habe!“
Nach all dieser Eigenwerbung, ob von Lauterbach oder Lanz, berichtet Genewein über die Nachwirkungen von Corona und überzogenen Schutzmaßnahmen bei jungen Patienten, die in ihrem Kinder- und Jugendkrankenhaus „Auf der Bult“ in Hannover, in dem man an zwei Standorten allein im Bereich Kinder- und Jugendpsychiatrie 103 Betten habe (die Gesamtbettenzahl liegt bei 295), behandelt würden. Es gebe vermehrt schwere psychische Angststörungen bei den Kleinsten bis zu sechs Jahren: „Sie haben Ängste vor allem Möglichen. Die haben auch drei Jahre mit Ängsten gelebt.“ Und mit Eltern, denen die Pandemie so manches abgefordert habe. Im Allgemeinen sei sie enttäuscht von der jetzigen Regierung, wie auch derjenigen zu Zeiten von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Die Kinderkrankenhäuser hätten ein finanzielles Problem: „Wir haben nichts refinanziert bekommen. Und wir haben auch keine Corona-Pauschale bekommen.“ Eines der letzten eigenständigen Kinderkrankenhäuser sei somit in seiner Existenz bedroht.
„Einige Ihrer Forderungen habe ich umgesetzt“, meint Lauterbach und spielt darauf an, dass Pflegekräfte aus dem Erwachsenenbereich im Kinderkrankenhaus eingesetzt wurden, als Kinderpflegekräfte, die sich nicht impfen ließen, aus dem Dienst ausscheiden mussten. Dies habe aber aus diversen Gründen nicht so gut funktioniert, gibt Genewein zu denken. Dennoch lobt sie an diesem Abend ausnahmsweise Lauterbach, wenn sie sagt: „Wir haben einen Gesundheitsminister, der die Kinder in den Blick nimmt.“ Das ist zugleich ein Seitenhieb auf seinen in vielerlei Hinsicht überforderten Vorgänger Jens Spahn (CDU). Dennoch räumt sie ein: „Die Kindermedizin konnte sich nicht im gleichen Maßen weiterentwickeln wie in anderen Ländern.“ Bevor sie dies ausführen und Lauterbach darauf etwas erwidern kann, bricht Lanz ab: „Die Sendezeit ist leider um.“ Zu den unnötigen „Maßnahmen“ seiner Sendung seit dem Corona-Zeitalter gehören eben die leidigen Tatsachen, dass es kein Live-Publikum mehr gibt und auch keine Überziehungen … (Marc Hairapetian)