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Kurzfilmtage Oberhausen: Klassiker für die Gegenwart

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Von: Daniel Kothenschulte

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„Turtleneck Phantasies“ von Gernot Wieland. Gernot Wieland
„Turtleneck Phantasies“ von Gernot Wieland. Gernot Wieland © Gernot Wieland

Bei den 69. Oberhausener Kurzfilmtagen fanden sich Offenbarungen in den Nebenreihen

Lieber hätte er seinen Film gar nicht gedreht, bekannte der Gewinner des Großen Preises von Oberhausen, der ukrainische Filmemacher Oleksiy Radynski mit Blick auf die verbrecherische russische Invasion. Sein dokumentarischer Kurzfilm „Chernobyl 22“ behandelt die Besetzung des seit der Reaktorkatastrophe von 1986 weltbekannten Kernkraftwerks aus der Perspektive einiger Angestellter. Bei Entgegennahme des mit 8000 Euro dotierten Hauptpreises des ältesten deutschen Kurzfilmfestivals spaltete er das Publikum freilich, als er ergänzte: „Der Krieg in der Ukraine wäre längst zu Ende, wenn nicht politische Eliten, auch in Deutschland, nicht wollten, dass Russland ihn verlöre.“

Künstlerischer Tiefpunkt

Ebenfalls diskutieren muss man über die Qualität dieses formal obskuren Festivalgewinners. Die Interviews mit den Kraftwerksmitarbeitern, von denen sich einer rühmt, auch im Falle eines Atomunfalls seinen Platz niemals verlassen zu wollen, bleiben unpersönlich und bieten kaum neue Informationen. Natürlich kann auch Propaganda ästhetische Relevanz gewinnen, doch der 20-Minuten-Film besitzt nicht die Spur einer persönlichen Handschrift. Doch es ist keineswegs der künstlerische Tiefpunkt unter den ausgezeichneten Filmen.

Den setzte der niederländische Beitrag „Let’s Be Friends“ über das Modethema „künstliche Intelligenz“, der den Preis der ökumenischen Jury erhielt. Schon im Vorspann rühmen sich die Filmemacher Arno Coenen und Rodger Werkhoven, den weltweit ersten Film mit der neuen Technologie gedreht zu haben, im Abspann danken sie den Kurzfilmtagen und einem Mitglied seiner Auswahlkommission. Was macht ein derart banal-humoriger Film, der eine Reihe von artifiziell erzeugten Gesprächspartnern zu belanglosen Unterhaltungen verführt, in einem Wettbewerb, der zugleich Filme von der Qualität des neuen Werks von Matthias Müller und Christoph Girardet, „No Animal“, ablehnte?

Natürlich ist es ungerecht, ein Festival mit Tausenden von Einreichungen an seinen Ablehnungen zu bewerten, ohnehin macht das geschichtsbewusste Oberhausen gerne historische Fehlentscheidungen selbst zum Thema. Im Eröffnungsprogramm dieser 69. Ausgabe erinnerte Direktor Lars-Henrik Gass aus Anlass des Todes von Jean-Marie Straub an dessen frühe Böll-Verfilmung „Machorka-Muff“. 1963 zunächst abgelehnt, wurde das pazifistische Werk nach Protesten außer Konkurrenz gezeigt: Überaus aktuell erscheinen heute darin die Zeitungsausschnitte, die für eine Re-Militarisierung der Bundesrepublik und eine Stärkung der Rüstungsindustrie werben.

Es ist wenig bekannt, dass Straub auch nach dem Tod von Danièle Huillet 2006 noch zwanzig meist kurze Filme drehte. Vier von ihnen versammelte ein Sonderprogramm, darunter eines seiner schönsten Werke: „Itinéraire de Jean Bricard“ erzählt zu Schwarzweißaufnahmen einer Flussfahrt von Huillets Kindheit an der Loire-Insel île Coton und deren Bedeutung für die Résistance. Es sind auch die letzten Bilder des großen Nouvelle-Vague-Kameramanns William Lubchantsky, der seit den Anfängen von Straub-Huillet verantwortlich war für den heimlichen ästhetischen Überschuss ihrer zugleich konzeptuellen Werke.

An dieser Schnittstelle bewegten sich auch weitere Werkschauen, mit denen das Festival wieder einmal für die unebene Qualität seiner Wettbewerbe entschädigte. So das auf sinnliche Weise diskursive Kino der Amerikanerin Lynne Sachs. Vor dem Hintergrund feministischer Theorie entwickelt die Künstlerin seit den 90er Jahren eine filmische Poesie, in der sich Worte und Bilder behutsam konterkarieren – und dabei buchstäblich unter die Haut gehen. Persönliche und kollektive Geschichtserfahrungen verbinden sich in einem Stil komplexer Leichtigkeit, verführerisch und doch desillusionierend.

Auch in den Wettbewerben gab es Werke von hoher poetischer Kraft. Herausragend ist „Turtleneck Phantasies“ von Gernot Wieland, der den deutschen Wettbewerb gewann. Aus den Super-8-Filmen seines Vaters destilliert er mal mitteilsame, mal rätselhafte Fundstücke. Verwoben zu einem hypnotischen Gedicht aus Bild und Monolog, hebt der private Mikrokosmos ab in Richtung eines verwegenen Gesellschaftspanoramas.

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