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Kurzfilmtage Oberhausen: Die Wunden der Zeit

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Von: Daniel Kothenschulte

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Aus Rainer Komers’ „Zigeuner in Duisburg“. Foto: Rainer Komers
Aus Rainer Komers’ „Zigeuner in Duisburg“. © Rainer Komers

Bei den 68. Kurzfilmtagen Oberhausen geben beklemmende Zeitbilder den Ton an – und einen Online-Wettbewerb gibt es jetzt auch.

Der Weg zum Nachbarn? Im 68. Jahr ihres Bestehens müssen auch die Oberhausener Kurzfilmtage erleben, dass ihr kosmopolitisches Motto plötzlich nicht mehr überall konsensfähig ist. Noch 2019, bei der letzten Ausgabe vor der Pandemie, kam der Eröffnungsfilm aus Russland, Alexander Sokurovs Klassiker „Sowjetische Elegie“, ein visuelles Gedicht über den Verfall der Sowjetunion. All die falsche Größe dieses vergifteten Erbes begründet nun Putins Vernichtungskrieg. Wer danach greift, so kann man nach diesem Film nur folgern, ist selbst des Todes. Für den damaligen Ehrengast, der dem Festivalarchiv eine Kollektion seiner Filme schenkte, war Oberhausen ein symbolischer Ort für kulturellen Dialog und Aussöhnung.

Und heute? Die Kurzfilmtage folgten nicht dem von der ukrainischen Regierung geforderten Kulturboykott russischer Künstler. Ähnlich entschieden sich zuletzt auch Filmfestivals in Graz und Stuttgart. Wie so oft in seiner Geschichte muss das Festival betonen, was in der Kunst eigentlich eine Binsenweisheit sein sollte – dass sie keine Denkverbote duldet. Wie es Festivalleiter Lars Henrik Gass in seiner Eröffnungsrede formulierte: „Kultur, wie wir sie verstehen, wie sie in diesem Haus Tradition hat, will nicht auf der richtigen Seite der Geschichte stehen. Das Geschenk des Kinos an die Gesellschaft ist, gezwungen zu sein wahrzunehmen, was wir nicht wissen.“

Im Wettbewerb trafen ein russischer und ein ukrainischer Beitrag aufeinander. Ob es ein Zufall ist, es sich bei beiden Beiträgen um dystopische Visionen handelt, wenn auch wenn die Beklemmung, die sie vermitteln, auf einer metaphorischen Ebene spielt? „The Wind Probably“ des Ukrainers Yuri Yefanov lässt in matten Neonfarben einen Mann auf seine Heimatstadt am Rande einer Apokalypse blicken. Das russische Regieduo Alexandra Karelina und Ivan Yakushev hält sich dagegen in seiner semiabstrakten Arbeit an Dostojewskis fantastisch-philosophische Erzählung „Bobok“, deren Ich-Erzähler auf einem Friedhof die Toten belauscht.

Aus Mariola Brillowskas Kleinod „Wann hast du das letzte Mal Blumen betrachtet“. Foto: Mariola Brillowska
Aus Mariola Brillowskas Kleinod „Wann hast du das letzte Mal Blumen betrachtet“. © Mariola Brillowska

So persönlich ihre jeweiligen Ästhetiken sind, so universell ist das Gefühl der Entfremdung, das sie behandeln: Es sind nicht die einzigen Filme im Internationalen Wettbewerb, die von den Erfahrungen der Corona-Pandemie zeugen.

In Hannah Wiker Wikströms halbstündigem Film „Weathering Heights“, dem schwedischen Gewinnerfilm des Großen Preises, überantwortet sich eine Frau mit einer unbekannten Erkrankung einer Ambulanz. „Interessiert Sie überhaupt, was ich habe?“, hört man sie sagen, und: „Ich sehe so viele verschwinden. Sie lassen so einfach los, sind sogar noch dankbar.“

Die bittere Kritik am schwedischen Gesundheitssystem, das die alten Menschen, die ihm vertrauten, hilflos sterben ließ, kommt auf leisen Sohlen: In Seelenlandschaften und Stillleben wie in Ingmar Bergmans Psychodramen. Dunkle Töne dominierten den Wettbewerb im Oberhausener Lichtburgkino, dem jetzt ein zweiter Online-Wettbewerb hinzugesellt wurde. Das Festival reagiert damit nicht nur auf die erweiterte Öffentlichkeit des Kurzfilms in den Online-Medien. Hier sind auch Beiträge zugelassen, die ihre Premieren bereits anderswo erlebt haben. Wie Jon Rafmans „Punctured Sky“, der Gewinner des Hauptpreises: Der amerikanische Animationsfilm war bereits in mehreren Kunstausstellungen zu sehen. Eine merkwürdige Melancholie befällt den Erzähler darin bei der Erinnerung an ein fast vergessenes Videospiel.

Von Jahr zu Jahr scheint der Aufwand größer, den man in Oberhausen betreibt, um alle Daseinsformen des Kurzfilms – die Kunstwelt spricht von „Dispositiven“ – einzuschließen. Nicht weniger als 600 Filme wurden dieses Jahr on- und offline gezeigt. Schon früh integrierte das Festival das Musikvideo. Die deutsch-polnische Animationsfilm-Veteranin Mariola Brillowska hätte mit ihrem wunderbaren Kleinod „Wann hast du das letzte Mal Blumen betrachtet“ auch einen Platz im Hauptwettbewerb verdient.

Aus Hannah Wiker Wikströms „Weathering Heights“. Foto: Wikström
Aus Hannah Wiker Wikströms „Weathering Heights“. © Wikström

Eine Sternstunde des Festivals war die Retrospektive des Mülheimer Dokumentaristen Rainer Komers. 1980 gewann er in Oberhausen den Kritikerpreis mit „Zigeuner in Duisburg“ der jetzt das Festival eröffnete. Die Vertreibung der Protagonisten von einem Platz in Duisburg gibt mehreren Generationen Gelegenheit, vom Erlittenen der Vergangenheit zu erzählen. Am Anfang eines fast fünfzigjährigen Schaffens zeigt sich Komers bereits im Besitz einer Filmsprache, die ihn über die Jahre zu einem Poeten des Wirklichen werden ließ.

Aus der Notwendigkeit, mit einem geringen Drehverhältnis auszukommen, entstehen reduzierte und doch großzügige Porträt-Einstellungen, die den Dargestellten Raum und Würde geben. Wie kein anderes Medium vermag der Kurzfilm, Zeit zu destillieren – und an Wunden zu erinnern, die sich nicht von selber schließen.

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