Krimi an der Schule im Kino: Der Kreidekreis

„Das Lehrerzimmer“ von Ilker Çatak ist eine kostbare Rarität im deutschen Kino: ein intelligenter Publikumsfilm.
Der Kreidestaub der Klassenräume unserer Kindheit setzt sich niemals wirklich fest. Kleinigkeiten reichen, uns in der Erinnerung zurückzustoßen an die ersten Erfahrungen als Gefangene von Institutionen. An das Buhlen um die Anerkennung unserer Mithäftlinge. Und Lehrstunden in Machtlosigkeit gegenüber der Willkür des pädagogischen Personals, wenn vielleicht sogar das Thema Demokratie auf dem Lehrplan stand.
Ilker Çataks Film trägt den schönen Titel „Das Lehrerzimmer“ nach dem geheimnisumwitterten, für uns verbotenen Ort. An einem Berliner Gymnasium ist es der Schauplatz kleiner Diebstähle, weshalb die neue Mathelehrerin Carla Nowak (Leonie Benesch) dem Phantom eine Falle stellt. Heimlich platziert sie ihre Handykamera, und in der Tat: Während die Kollegen zum Unterrichten ausgeflogen sind, macht sich wirklich jemand zu schaffen an ihrer Jackentasche und klaut Geld. Ein Gesicht sieht man auf der Aufnahme zwar nicht, wohl aber eine markant bedruckte Bluse. Genau so eine trägt an diesem Tag Frau Kuhn (Eva Löbau), die Sekretärin.
Der kleine, einseitige Kinderkrimi aus dem Lesebuch wäre hier zu Ende, aber schon die Exposition des Films gibt eine andere Richtung vor. Widerwillig wird die Lehrerin da von Kollegen in eine gegen einen Schüler ihrer Klasse gerichteten Ermittlung hineingezogen. Zunächst werden zwei Kinder dazu gedrängt, unter dem Versprechen der Vertraulichkeit einen Verdacht zu äußern, wogegen sie sich zunächst wehren. So gerät ihr Klassenkamerad Ali (Can Rodenbostel) in den Fokus der selbst ernannten Kommissare.
Tatsächlich hat er mehr Geld in der Tasche, als diese für unverdächtig halten. Seine Klassenlehrerin reagiert umso empörter über die offensichtlich rassistische Ausrichtung der Vorverurteilung als sich bald darauf eine peinliche Einbestellung der Eltern anschließt – die mit einer plausiblen Erklärung aufwarten. So also nimmt Carla Nowak die Untersuchungen selbst in die Hand. Und bemerkt dabei nicht einmal, dass sie mit der heimlichen Filmaufnahme selbst eine Straftat begeht.
In rasant gespielten, geschliffenen Dialogszenen ist schon nach wenigen Minuten die Atmosphäre eines gesellschaftskritischen Thrillers angelegt. So geringfügig das Delikt, so gewaltig ist der Schaden, den die stümperhaften Aufklärungsversuche anrichten: Kinder werden gedrängt, gegen ihr Gewissen zu handeln.
Angst um Arbeit und Ehre
Die Sekretärin wird ohne juristische Legitimation verdächtigt und muss um Ehre und Arbeit fürchten. Und als sich die Schülerzeitung schließlich der Sache annimmt und die Heimlichkeit der Videoaufnahme zur Debatte stellt, geht es bald auch der Pressefreiheit an den Kragen. Michael Haneke und Ruben Östlund hätten die psychosozialen Dynamiken und moralischen Dilemmata kaum plastischer entwickeln können als Ilker Çatak und Johannes Duncker, die gemeinsam das teils autobiografisch gefärbte Drehbuch schrieben.
Das deutsche Kino hat das finstere Tal verlassen, Kunst ist hier kein Fremdwort mehr, es geht bergauf. Und sogar die größte Rarität, der intelligente Publikumsfilm, lässt sich wieder finden. Der 39-jährige Çatak ist eine seiner größten Hoffnungen. Schon für seinen Kurzfilm „Sadakat“ gewann er 2015 einen Studentenoscar, zuletzt überzeugten seine Spielfilme „Es gilt das gesprochene Wort“ und „Räuberhände“. Das hätte einen so exzellenten Film wie „Das Lehrerzimmer“ eigentlich in den Wettbewerb der letzten Berlinale heben müssen, der aber war schon reichlich voll, so wurde er zum Geheimtipp des Panoramas. Ob diese Entscheidung auch damit zu tun hat, dass er nicht auf den ersten Blick nach Kunst aussieht und so bruchlos unterhält?
Dabei übersieht man vielleicht, wie unkonventionell dieser Film tatsächlich erzählt ist. Entgegen aller Handbücher zum Drehbuchschreiben erfahren wir nichts über die persönlichen Hintergründe und privaten Lebensumstände der Protagonistin. Und vermissen es nicht. Umso bemerkenswerter ist die Komplexität des Charakters in der Darstellung von Leonie Benesch.
Nur selten verlässt die Kamera einmal das modernistische Schulgebäude, das die Kritikerin eines amerikanischen Branchenblatts interessanterweise zur Annahme verleitete, deutsche „high schools“ seien zwar unpersönlich aber finanziell gut ausgestattet. Lieber hätte Çatak in seiner eigenen Schule gedreht, aber sie war nicht zu bekommen.
Dafür besitzt der Drehort mit seinen typischen Klassenräumen aber einem spektakulären Treppenhaus genau die Mischung aus Enge und Weite, mit der man eine Kinoleinwand füllt. Wie auch die geschliffenen Dialoge manchmal sehr geschickt aus dem Realismus der individuellen Erfahrungsräume in satirische Überhöhung ausbrechen.
All das sind Qualitäten, die nicht selbstverständlich sind im deutschen Kino und diesen Film auch international zu einem Publikumshit machen könnten.
Das Lehrerzimmer. D 2023. Regie: Ilker Çatak. 98 Min.