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Komödie „Haute Couture“ im Kino: Der Engel trägt Dior

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Von: Daniel Kothenschulte

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Nathalie Baye und Lyna Khoudri. Happy Entertainment
Nathalie Baye und Lyna Khoudri. Happy Entertainment © © Roger DO MINH / Les Films du 24

Sylvie Ohayons schwerelose Komödie über soziale Aufstiegsutopien „Haute Couture“.

Wenn das Kino in diesen Krisenzeiten noch irgendwo einen sicheren Hafen hat, dann liegt der wohl in Frankreich. Drei hervorragende französische Wettbewerbsbeiträge bei der Berlinale lassen erahnen, dass sich das kommende Festival in Cannes bereits für andere, womöglich noch bessere Produktionen entschieden hat.

Eine gesunde Filmkultur aber strahlt nicht nur bei Festivals. „Haute Couture“ ist ein Beispiel für die Qualität, die in Frankreich selbst eine formelhafte soziale Komödie erreichen kann, wie sie dort zum Kinoalltag gehört. Diesmal geht es um eine junge Kleinkriminelle aus der Banlieue, die mit Talent, Herz und einer guten Portion Glück Klassenschranken überwindet. Aber noch bevor sich für die etwa 20-jährige Jade die Türen zum spektakulären Schauplatz öffnen, den der Titel verspricht, ein Schneideratelier im Hause Dior, erweist sich der Film selbst als Produkt der Haute Couture. Die ersten fünf Minuten sind ein Schaustück kinematographischer Kunstschneiderei.

Zwei parallele Leben vermitteln sich darin zu den Klängen eines Popsongs aus den 80ern, dessen Text auf die Filmfigur von Nathalie Baye zugeschnitten scheint. Während Jean-Jacques Goldman in „La vie par procuration“ eine einsame Person besingt, die auf ihrem Balkon Brotreste für die Vögel platziert, unterhält sich die etwas schrullige, aber elegante Alleinstehende mit ihren Rosen.

Dann macht sie sich auf zur Metro, wo ihr die zweite Hauptfigur begegnen wird, die wir in der Parallelmontage bei ihrer kränklichen Mutter in einem Wohnsilo kennenlernen. Jade (Lyna Khoudri) klaut in der Bahn einem Schlafenden die Gitarre, um bei der nächsten Station, wie es der Zufall will, dasselbe Chanson, das wir bis jetzt gehört haben, zu interpretieren. Dem lauten Stadionhit verleiht sie dabei eine zerbrechliche, puristische Note. Das lässt auch die ältere Dame innehalten, und schon ist es um ihre Handtasche geschehen. „Ich schnappe mir die Diebin“, verspricht die Sängerin und lässt sie mit der Gitarre zurück. Die Taschendiebin ist natürlich ihre Komplizin, doch an der Beute hat sie nicht lange Freude.

Als sie ihren nordafrikanisch-stämmigen Freunden stolz eine Kette mit Davidstern präsentiert, hält sich deren Begeisterung in Grenzen: „Religiöse Sachen klaut man nicht, das bringt Unglück“. Dann ist da noch ein Skizzenbuch mit Mode-Sketchen, das eine unbestimmte Neugier weckt. Die Visitenkarten der Eigentümerin verweisen auf eine leitende Schneiderin bei Christian Dior, was die Protagonistinnen der ungleichen Frauenfreundschaft schnell zusammenführt.

Und eine Prise Pathos

Wer bei Geschichten über soziale Gegensätze ein gewisses Maß an Realismus erwartet, mag sich nach diesen fünf Minuten unglaublicher Zufälle nach einer anderen Abendunterhaltung umschauen. Zumal die Filmemacherin Sylvie Ohayon, die sich beim Milieu der jungen Protagonistin an ihrer eigenen Vorstadt-Jugend orientierte, gern auch eine Prise Pathos beimischt. So flüchtet sich Jade zur Begutachtung der Beute in ein christliches Gotteshaus, wo ein Chor nicht mit sakralen Reizen geizt. Ein Hauch von Krzysztof Kieslowski schwingt in dieser Bilderzählung, aber genau das ist es auch, was dieser Film anderen „social comedies“ voraus hat: Das Bewusstsein für die Märchenhaftigkeit seines Sujets.

Auch „Ziemlich beste Freunde“ hat seine Wurzeln in „Cendrillon“, Charles Perraults „Aschenputtel“-Ahnin. Tatsächlich scheint die Popularität dieses Märchens ebenso dauerhaft wie die soziale Ungleichheit, von der es handelt. Nun ist zu den klassischen „Aschenputtel“-Verfilmungen, zu Georges Mélies, Disney und Vaclav Vorlicek, noch eine weitere hinzugekommen. Eine, die dorthin führt, wo Märchenkleider auch heute noch von fliegenden Nadeln gefertigt werden.

Es sind die Hände der jungen Diebin, die sie der Meisterschneiderin als Praktikantin anempfehlen. Bei Dior trifft sie auf eifersüchtige Stiefschwestern, aber auch ein paar gute Feen; auch wenn diese eher Fleiß predigen. Was dem Film sonst an Realismus fehlt, liefern die Szenen der Arbeit an den Kleidern. Angeleitet von der Dior-Archivarin Justine Vivien, wirken sie äußerst glaubwürdig. Tatsächlich erlebt man die Rekonstruktion eines legendären Christan-Dior-Modells, des Kleides „Francis Poulenc“ von 1950, einem federleichten Traum in Weiß. Einmal darf es das Aschenputtel sogar selber überstreifen, doch die höchste Stufe des sozialen Aufstiegs ist eine Anstellung als Schneiderin.

Das allerdings ist märchenhaft genug, wenn man bedenkt, wie gering die Chancen dafür in der real existierenden Klassengesellschaft ohne angemessenen Bildungsabschluss wären. Als stünde nicht der Kapitalismus mit seiner hier gefeierten Luxusindustrie maßgeblich hinter ihrem Fortbestehen, erscheint er in majestätischer Herrlichkeit.

Über allem eine Eminenz

Die Räume des Modehauses erinnern nicht von ungefähr an Versailles. Es präsentiert sich als jener Rest des Absolutismus, der die Französische Revolution überlebt hat. Karrieren sind hier noch möglich per Ernennung, und obwohl in der Geschichte nur Entscheidungsträgerinnen eine Rolle spielen, thront über allem eine nicht näher charakterisierte Eminenz. Nur in einer stummen Szene gibt ein Chefdesigner den vor seinem Urteil zitternden Schneiderinnen schließlich seinen Segen. Aber auch zu diesem Moment muss man der Autorin und Regisseurin gratulieren; andere hätten die Realität von Wirtschaftshierarchien ganz dem märchenkonformen Wunschdenken geopfert.

So problematisch die Ausbruchsutopie erscheint, die sie in ihrem Film präsentiert – inklusive ausufernder Arbeitszeiten, die der Willkür der Chefin obliegen – so virtuos ist ihr Stück filmischer Konfektion gefertigt. Die Balance zwischen den kontrastierenden Lebenswelten funktioniert und die Zeichnung der jungen Protagonistin, die ihre Identität nicht an die Ideale der weißen Bourgeoisie verkaufen will, überzeugt. Der schwerelose Anfang hält auch den Rest des Films in Schwingung. Was leichten Komödien in den allermeisten Fällen fehlt, ist ironischerweise genau, was hier in federleichtem Tüll geschneidert wird – echte Leichtigkeit.

Haute Couture. Frankreich 2021. Regie: Sylvie Ohayon. 101 Min.

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