Jugenddrama „Sonne und Beton“: Kein Sommer vorm Balkon

David Wnendt gelingt mit der Literaturverfilmung „Sonne und Beton“ eines der besten deutschen Jugenddramen der letzten Jahre
Mit rekordverdächtigen fünf deutschen Wettbewerbsbeiträgen ging gerade die Berlinale zu Ende. Dies ist die heimliche Nummer sechs, die zum Bedauern vieler lediglich als „Special Screening“ außer Konkurrenz gezeigt wurde. Schnell war die alte Rivalität zwischen Kunst und Unterhaltung wieder lebendig, die ein großes Festival doch eigentlich hinter sich lassen sollte, besonders mit einem Steven Spielberg als Ehrengast. Wer würde schließlich einem unterhaltsamen Kinofilm, der mit Liebe gemacht ist, den Kunstwert absprechen?
Damit hat man es zu tun bei David Wnendts Verfilmung des autobiographisch inspirierten Bestsellers von Felix Lobrecht, „Sonne und Beton“. Der deutsche Stand-Up-Comedian ist auch Co-Autor des Drehbuchs und bringt damit eine besondere Qualität des Buchs direkt auf die Leinwand: Die haargenau abgelauschte Sprache der etwa 16-jährigen Jungs, die hier im Jahre 2003 erleben, was das amerikanische Kino schnell als „letzten Sommer der Kindheit“ glorifizieren würde. Davon sind wir weit entfernt, Ruhmreiches gibt es für die Freunde Lukas, Julius und Gino in der Gropiusstadt nicht zu erleben. Und schon sind wir da, wo sich dieser Film von nahezu allem unterscheidet, was das Coming-of-Age-Genre üblicherweise für erzählenswert hält. Es gibt keine Helden, es gibt auch keine Antihelden, es gibt nur bewundernswert lebensecht gespielte Charaktere. Selbst wenn einige von ihnen wenig Gutes mit sich und dem etwas schmächtigen Protagonisten Lukas anzufangen wissen, von dem sie Schutzgeld erpressen und den sie verprügeln, bleiben sie doch immer menschlich.
Lukas (Levy Rico Arcos) ist als ethnisch weißer Junge in der Großwohnsiedlung der Neuköllner Gropiusstadt in der Minderheit, was ihn die Nachbarschaftsgangs ständig spüren lassen. Wnendt und Lobrecht machen dabei sehr subtil klar, dass die soziale Ausgrenzung hier mehr mit bekannten Gruppenphänomen als mit Rassismus zu tun tat.
Der wird erst wirklich zum Thema, als in einer klugen Szene ein Lehrer ein vergiftetes Kompliment an Lukas heranträgt: Mit seiner Begabung im Aufsatzschreiben habe er doch ganz besondere Chancen, anders als all die Ausländerkinder in einem Deutschland, das sich gerade abschaffe. Auch wenn das unselige Buch von Thilo Sarrazin erst ein paar Jahre später, 2010, erschienen ist, fängt der Film in diesen kurzen Moment eine längst schwelende Stimmung ein.
Patina gut verwischt
Ebenso ist dies nicht der Film, der in exakten Ausstattungsdetails eine lauschige Retro-Atmosphäre zaubern würde, auch die unterlegte Musik ist häufig späteren Datums. So holt der Film die Vergangenheit an die Gegenwart eines jugendlichen Publikums heran und verwischt zugleich jene Patina, die eine verblassende Jugendkultur allzu schnell ansetzt. Wenn es derzeit einen Jugendfilm gibt, der für Jugendliche und ihre Elterngeneration gleichermaßen identifikationsstiftend ist, dann diesen. Allerdings müssen Erwachsene in Kauf nehmen, dass über die Elterngeneration wenig Gutes zu erfahren ist. Der Film ist so konsequent bei den Jugendlichen, dass er auch der pubertären Distanz von ihrer Seite her eine seltene Stimme gibt – also, das was sich Erwachsenen als unsichtbare Wand auftut, wenn ihre Teenagerkinder reifen.
Filme über das Heranwachsen handeln meist von großen, abenteuerlichen Unternehmungen. Hier scheitern sie alle: Besonders jämmerlich die Versuche, Mädchen anzuquatschen – in großartigen kleinen Szenen, die ausreichen, nicht den Eindruck eines reinen „Jungensfilms“ entstehen zu lassen. Auch der zentrale Handlungsstrang ist alles andere als heroisch: Als der Schule fünfzig neue Computer beschert werden, hat Lukas’ neuer Klassenkamerad Sanchez (Aaron Maldonado-Morales) die dumme Idee, sie zu klauen. Das gelingt trotz einiger Pannen immerhin noch besser als der Versuch, sie wieder loszuwerden. Die rasante Montage von Andreas Wodraschke, einem der besten deutschen Editoren, verwebt die vielen kleinen Erzählstränge zu einem dichten urbanen Graffito. Wem es dennoch gelingt, zurückzutreten hinter dieser Fülle aus Worten und Aktion, der sieht aber auch Ansätze eines Gesellschaftsporträts. Dann wirft der Computerschatz der Schule die Fragen auf, ob man ihn denn überhaupt im Lehrbetrieb noch sinnvoll eingesetzt hätte und wie es seit der Spielzeit 2003 so mancher Digitalisierungsinitiative ergangen ist.
Aber ebenso wenig wie der Film in Richtung der Jugendlichen moralisiert, wirft er mit großen Ausrufezeichen in Richtung der Politik. Genau das verortet ihn auf Augenhöhe mit seinem Publikum und lässt ihn nie innehalten in seiner speziellen, durchaus empfindsamen Wucht. Eines jedenfalls ist klar: Eine solche Seltenheit von einem Coming-of-Age- und Großstadtfilm dürfte sich recht schnell zum Kultfilm mausern.
Sonne und Beton. Deutschland 2022. Regie: David Wnendt. 119 Min.