Jan Böhmermann über „Moria 2“: EU steckt auf Samos Unschuldige ins Gefängnis

Jan Böhmermann nimmt sich in seinem ZDF Magazin Royale der Menschenverachtung der EU im Flüchtlingslager Moria 2 an. Ist das noch Satire? Eine TV-Kritik.
Was ist eigentlich Satire? Bevor Sie an dieser Stelle direkt wegklicken, lassen Sie mich diesen Gedanken im Zusammenhang mit der aktuellen Folge des ZDF Magazin Royale mit Jan Böhmermann bitte kurz ausführen. Ich verspreche auch, dass wir die staubtrockene Schale schnell vom Kern des Anlasses gepult haben.
Der Duden, seines Zeichens die heilige Schrift deutscher Besserwisser und Sprachfetischisten, definiert Satire folgendermaßen: „Kunstgattung (Literatur, Karikatur, Film), die durch Übertreibung, Ironie und [beißenden] Spott an Personen, Ereignissen Kritik übt, sie der Lächerlichkeit preisgibt, Zustände anprangert, mit scharfem Witz geißelt.“ Übertreibung also. Ironie und beißender Spott. Scharfer Witz. Anders gesagt: So ziemlich genau das, was ich, bitte korrigieren Sie mich, vor Augen habe, wenn ich beispielsweise an Jan Böhmermann und sein geniales Lied „für“ Rainer Wendt denke.
Sie wissen schon, Rainer Wendt. Dieser kleine, unbedeutende Chef einer noch kleineren und ebenso unbedeutenden Polizeigewerkschaft, der alles doof findet, das nicht als intellektueller, gesellschaftlicher oder sozialer Staubfänger herhält. Falls Sie das Lied nicht kennen, bitte ich Sie, sich das hier anzuschauen, bevor Sie weiterlesen:
ZDF Magazin mit Jan Böhmermann zum Lager Samos: Ist das noch Satire?
Gut. Danke. Da wir uns nun also mit demselben Ohrwurm herumplagen, lassen Sie mich erklären, warum ich die eingangs formulierte Forschungsfrage in den Raum geworfen habe. Als jemand, der Woche für Woche in das ZDF Magazin Royale zappt, und zwar auch, aber eben nicht nur aus beruflichen Gründen, befinde ich mich inzwischen in einer Art rezensierenden Sinnkrise. Was schaue ich mir da eigentlich an? Und vor welchem Hintergrund, vermaledeit, soll ich das, was ich da sehe, für Sie einordnen? Ist ja schließlich mein Job.
Mein Grundproblem ist: Jan Böhmermann ist ein herausragender Satiriker. Wenn er denn will. Seine Rap-Persiflagen als „Pol1z1stens0hn“, der Vera-Fake, der bis heute verwirrende Varou-Fake, die herausragenden Songs „BE DEUTSCH!“ und „Herz, Faust und zwinkerzwinker“ – ganz großes Kino. Relevant (Achtung, nächstes Wort bitte betont lesen) und witzig. Doch irgendwie, erneut bitte ich Sie darum mich zu korrigieren, wirkt Jan Böhmermann inzwischen wie jemand, der gar kein Satiriker mehr sein will. Kein Comedian. Sondern lieber ein politischer Kommentator, der sich am aktuellen Tagesgeschehen abarbeitet und dafür auf (in der Regel) exzellente Recherche zurückgreift.
Seine fleißigen Recherche-Bienchen aus der eigenen ZDF-Redaktion und „benachbarten“ Netzwerken (heute: FragDenStaat.de und die Reichelt-Entlarver von Ippen Investigativ) schaufeln Missstände ans Tageslicht und reiben sie einer zuvor ignoranten Öffentlichkeit mit der Zärtlichkeit eines Steven Seagal (übrigens inzwischen „Russischer Sonderbeauftragter für die humanitären Beziehungen mit den USA“ - kann man sich nicht ausdenken) unter die Nase. Jan Böhmermann wirkt so immer mehr wie der Günter Wallraff des ZDF. Politisch, moralisch, investigativ. Eine Rolle, die ihm steht. Das sei unbenommen.
Jan Böhmermann prangert im ZDF Magazin Royale die menschenfeindliche Politik der EU auf Samos an
So auch in dieser Folge seines ZDF Magazin Royale, in der Böhmermann die lebensfeindliche Internierung von Menschen, denen kein Verbrechen vorgeworfen wird, anprangert. Nein, dabei geht es nicht um politisch Verfolgte in Russland oder Belarus. Und nein, auch nicht um Journalisten in der Türkei. Sondern um Menschen, die sich ihr Schicksal nicht einmal selbst ausgesucht haben. Um Menschen, darunter viele Kinder und Frauen auf Samos, dem Geflüchtetenlager, das seit einiger Zeit unter der wenig schmeichelhaften Umschreibung „Moria 2“ firmiert.
Um Menschen, darunter viele Kinder und Frauen, die hinter Stacheldraht gesperrt werden, möglichst weit weg von der nächstgelegenen Zivilisation, um dort ein möglichst tristes Dasein zu fristen. Und um möglichst lieber dorthin zurückkehren zu wollen, wo die Bomben fallen. Dort wird, so Jan Böhmermann, „gegen die Menschenrechte verstoßen, aber bitte nach EU-Standards“. Die gesamte Folge ZDF Magazin Royale schafft es, die EU für die Umstände dort vor Ort und Beate Gminder vollends bloßzustellen. Wer das ist?
Nunja, die deutsche Bürokratin Gminder trägt den Titel „Deputy Director-General in charge of the ‚Task Force Migration Management‘“ der EU. Im Grunde ist sie also so etwas wie die europaweit höchste Gefängnischefin für Menschen, denen, ich wiederhole mich gern, kein einziges Verbrechen vorgeworfen wird. Vielleicht von dem Verbrechen abgesehen, leben zu wollen und vor Krieg, Vertreibung, Vergewaltigung, Mord und Hunger geflohen zu sein.
ZDF Magazin Royale zum „Moria 2“ Samos: Kritische Reproduktion von Investigativjournalismus
Das alles in diesen wenigen Zeilen hier zusammenzufassen, wäre der unfassbaren Ernsthaftigkeit und der widerlichen Verachtung menschlichen Lebens und menschlicher Freiheit nicht angemessen, welche die EU dort vor Ort zeigt. Also sei, ganz mit Jan Böhmermann, empfohlen, einen dieser Links hier anzuklicken (zumindest, solange noch genug Mitmenschlichkeit vorhanden ist, das Leben von Menschen außerhalb des eigenen Job Center-Einzugsgebiets als des Lebens wert zu erachten):
Informationen über das Lager Samos
Danke fürs Anklicken. Falls Sie stattdessen noch ein klein wenig in dieser TV-Kritik mit der ihr eigenen Identitätskrise verweilen wollen, mag ich extra für Sie versuchen, den Kreis zu schließen. Was also ist Satire? Was Satire darf, wissen wir. Aber was kann sie? Was ist sie? Wo fängt sie an, wo hört sie auf und vor allem: Was unterscheidet sie von (absolut relevantem) Investigativjournalismus oder zumindest einem kommentierenden Journalismus, der Investigativjournalismus reproduziert?
Ich habe mir im Vorfeld dieser Ausgabe des ZDF Magazin Royale den Spaß gemacht, alle 24 Ausgaben der „Neo Magazin Royale Classics“-Folgen in der ZDF-Mediathek anzuschauen. Und wurde bestens unterhalten. Ich habe viel gelacht. Teilweise waren die Witze, Liedchen und Sketches voller Übertreibung, Ironie und [beißenden] Spott. Sie gaben Personen und Ereignissen der Lächerlichkeit preis. Sie erfüllten den Tatbestand der Satire.
„Moria 2“ Samos: Dieses ZDF Magazin Royale mit Jan Böhmermann ist nicht mehr witzig, sondern relevant
Inzwischen erwische ich mich, bitte schreiben Sie mir gern, wie Sie das empfinden, kaum noch beim Lachen, wenn Jan Böhmermann zum ZDF Magazin Royale einlädt. Denn Jan Böhmermann ist kaum noch übertreibend, ironisch, spöttisch. Er ist kein Hofnarr mehr. Ich denke, das will er auch gar nicht mehr sein. Denn mit den Themen, denen er immer mehr Platz einräumt, bei gleichzeitig immer größerer Zurückhaltung der eigenen Exposition ist er nun vor allem eins: relevant.
„ZDF Magazin Royale“ mit Jan Böhmermann
„Das neue Moria – Wenn Geflüchtete zu Gefangenen werden“, ZDF, von Freitag, 22. Oktober, ab 23 Uhr. Im Netz: ZDF Mediathek.
Und in dieser Rolle inzwischen vielleicht nicht mehr der (so nannte ich Jan Böhmermann vor Wochenfrist) wichtigste Satiriker des Landes. Dafür aber eine der wichtigsten, wenn nicht die wichtigste, Stimme eines kritischen Journalismus, der den Finger an der Stelle in die Wunde quetscht, an der wir alle zumeist am liebsten angeekelt wegsehen würden. (Mirko Schmid)