Gruselfilm „Midsommar“: Wege zu Kraft und Schrecken

Haben die noch nie einen Gruselfilm gesehen? „Midsommar“ ist imposant, aber nicht originell.
Der Grusel hat viele Gesichter. Wer will, kann zum Beispiel im Dokumentarfilm „Wege zu Kraft und Schönheit“, einem Plädoyer für die Hygienekultur aus dem Jahr 1925, den späteren NS-Körperkult aufscheinen sehen: Turnen und Ausdruckstanz werden da zu erhabenen Massenchoreografien unter freiem Himmel überhöht. Sogar Leni Riefenstahl persönlich soll in einer Gymnastikszene als Statistin zu entdecken sein.
Der US-amerikanische Filmemacher Ari Aster muss diesen Stummfilmklassiker sehr genau studiert haben. Sein nach „Hereditary – Das Vermächtnis“ zweiter (Horror-)Film führt fünf junge Amerikaner in eine verschworene schwedische Gemeinde, wo man das Ringelreihen-Tanzen ebenfalls zum Kult erhoben hat. Damit ist es allerdings noch nicht getan bei den nur alle 90 Jahre stattfindenden Feierlichkeiten rund um die längste Nacht des Jahres.
Gleich zur Begrüßung erleben die staunenden Gäste das erste Opfer-Ritual: Ein altes Paar wirft sich lächelnd eine Klippe hinunter. Das wäre eigentlich die Gelegenheit, schleunigst das Weite zu suchen, aber zwei ehrgeizige Anthropologie-Studenten in der Gruppe gieren förmlich nach der wissenschaftlichen Beute. Dass sie sich bald genau darum erbittert bekriegen werden, ist nur eine Nebenhandlung. Die Protagonistin der Geschichte, die von einem Familienunglück traumatisierte Freundin des einen, ist ebenfalls nicht stark genug, ihrem gesunden Menschenverstand zu folgen und zum Aufbruch zu blasen. Hat denn hier niemand schon mal einen Horrorfilm gesehen?
Florence Pugh spielt diese Dani auf faszinierende Weise, gleichermaßen fragil und souverän. Auch ein kommendes Talent zu entdecken, kann ein Grund sein, ins Kino zu gehen: von dieser 23-Jährigen wird man noch viel hören.
Was die weiteren Qualitäten dieses Films angeht, ist die erste Hälfte tatsächlich mitunter staunenswert mit ihren gezirkelten Kompositionen unter freiem Himmel, den herrlich absurden Holzbauten, den pseudo-folkloristischen Kult- und Wohnstätten. Ab und zu kriegt mal jemand eins mit dem Holzhammer auf den Kopf. Auch aus dem „Hau den Lukas“ einer Dorfkirmes kann man ein okkultes Opferritual gestalten. Doch mit Fortschreiten der Handlung – die Laufzeit von zwei Stunden und 27 Minuten ist nur durch die Bedürfnisse von Streamingportalen zu erklären – schlägt die Vorsehung erbarmungslos zu, aber anders als von der Dorfgemeinschaft versprochen. Jede Wendung lässt sich vorhersehen.
Trotz seiner imposanten Bilder ist „Midsommar“ nicht origineller als ein durchschnittlicher Film der „Hostel“-Serie. Die Zielgruppe sind amerikanische College-Studenten, die von urigen Europa-Reisen träumen und hoffentlich alle Genreklassiker, die hier geplündert werden, noch nicht kennen. Ganz besonders ist hier „The Wicker Man“ zu nennen, Robin Hardys 1973 mit Christopher Lee inszenierter Thriller um tödliche Riten in einem schottischen Dorf. Da fanden Kunst und Horror noch sehr glücklich zusammen. Früher, im Kolonialismus, wurden solche Gruselgeschichten über indigene Völker ferner Kontinente erzählt. Dass sich dieser Blick einmal auf Europa richtet, ist fraglos zu begrüßen. Oder ist Europa für Hollywood einfach noch immer dieser urige, schwer verständliche Urgrund merkwürdiger Gebräuche?
„Midsommar“ ist ebenso ehrgeizig wie angepasst, was er mit vielen nur äußerlich originellen jüngeren amerikanischen Genrefilmen gemein hat. Auch Originalität kann ein Schock sein, weit mehr und wirkungsvoller als alle zerschlagenen Köpfe und grauslichen Menschenopfer.
Midsommar. USA 2019. Regie: Ari Aster. 147 Min.