Große Ausstellung „Disney 100“ in München: Walt als Avatar

Der führende Unterhaltungskonzern erzählt seine Geschichte: die Ausstellung „Disney 100“ in München.
Die erfundene Geschichte vom tiefgefrorenen Firmenchef geisterte noch Jahrzehnte nach Walt Disneys Tod im Jahre 1966 durch den Boulevard. Da half es auch wenig, dass Walt Disneys Tochter Diane 1972 schriftlich erklärte, nie habe ihr Vater auch nur daran gedacht, sich einfrieren zu lassen.
Nun ist er dennoch auferstanden: Als Avatar begrüßt er das Publikum der Schau „Disney 100 – Die Ausstellung“, die am Montagabend in den Münchner Olympiahallen Europapremiere feierte. Offensichtlich angeregt durch den Erfolg einer nur noch virtuell auftretenden schwedischen Popgruppe haben sich die Animatoren bei der Gestaltung seiner Physiognomie eine mittlere Lebensphase zum Vorbild genommen. Nur die aus einer Tonaufnahme übernommene, knarzige Stimme des passionierten Rauchers verrät bereits „Uncle Walt“, den späteren Fernsehstar.
Der digitale Mensch auf der kleinen Bühne hat dagegen die schwarzen Haare des Mannes mit Anfang 40, der gerade wieder einmal eine Krise überwinden musste. Das Studio hatte soeben einen Streik sowie die Kassenflops „Pinocchio“ und „Fantasia“ hinter sich und musste in Kriegszeiten den Verlust großer europäischer Märkte verkraften. Am Ende aber rettete ihn ein altes Erfolgsrezept: So wie schon 1937 „Schneewittchen“ sorgte 1950 „Cinderella“ abermals für einen märchenhaften Welterfolg.
Am 15. Oktober feiert der Disney-Konzern offiziell sein hundertjähriges Bestehen; der Vertrag über seine stumme Filmserie „Alice in Cartoonland“, der das belegt, hängt als Kopie in der Ausstellung. Leider sind fast alle zweidimensionalen Objekte nur Reproduktionen. Lediglich einige der frühesten Dokumente sind im Original zu sehen: Seite 2 des Drehbuchs von „Steamboat Willie“, dem erstaufgeführten Micky-Maus-Film von 1928, sowie ein Plakatentwurf seines Vorgängers „Oswald, das Kaninchen“, der gerade seinen 95. Geburtstag feiert. Dazu noch einige Notenhandschriften der Lieder aus „Schneewittchen“.
Wenigstens sind die Faksimiles besser gelungen als das von Walt am Eingang, das man vorsichtshalber hinter ein transparentes Extradisplay mit Feenstaub platziert hat. Auch heißt das nicht, dass es nicht immer noch genug Disney-Originale zu sehen gibt, die den Besuch lohnen. „Die Disney Archives haben Originale geschickt, die Animation Research Library nicht“, erklärt Archivleiterin Becky Cline die unterschiedliche Arbeitsweise der beiden Hauptabteilungen der historischen Sammlungen des Disney-Konzerns.
So bleibt das eigentliche Material, aus dem animierte Bilder vor der Digitalzeit meist bestanden, in der Ausstellung kurioserweise abwesend – es gibt keine „Cels“ zu sehen, jene fein bemalten Folien, die in der Regel auf Wasserfarbhintergründe gelegt und dann fotografiert wurden. Stattdessen gibt es eine Fülle dreidimensionaler Originale: Die opulenten Märchenbücher, die an den Filmanfängen von „Schneewittchen“ (hier als zeitgleich hergestellte niederländische Fassung), „Cinderella“ und „Merlin und Mim“ geöffnet wurden, und ein Kostümoberteil, mit dem die junge Tänzerin Marjorie Belcher als „Snow White“-Modell für die Zeichner posierte. Zahlreiche bemalte Tonfiguren leisteten den Zeichenteams ähnliche Dienste und gehören heute zu den fragilsten Zeugnissen dieser bei Disney kaum noch praktizierten Kunst.
Womit man heute – nach Zukauf weiterer Firmen – dort mehr zu tun hat, darf natürlich auch nicht fehlen: Ein „Star Wars“-Stormtrooper hat seine Rüstung dagelassen, zahlreiche Marvel-Superhelden ihre charakteristischen Kopfbedeckungen. Nur die Micky-Maus-Ohren muss man sich selbst mitbringen – im Giftshop waren sie jedenfalls nicht zu finden, dafür eine limitierte Steiff-Maus mit kleinem Teddybären in der Hand für nicht weniger als 500 Euro.

Derart enzyklopädische Ausstellungen sind auch für große Filmmuseen schwer zu stemmen, und man muss die Professionalität dieser Unternehmung anerkennen. Hundert Jahre Firmengeschichte werden geschickterweise nie streng chronologisch erzählt, um, wie Mitkuratorin Paula Sigman-Lowery erklärt, auch kleine Kinder nicht zu lange auf ihre Lieblingsfiguren warten zu lassen.
Die interessantesten Schaustücke nutzte schon Walt Disney selbst, um, was er gerne tat, die „tricks of his trade“ im Fernsehen zu erklären: So eine Multiplan-Box von 1957, mit der die Simulation von Tiefenebenen bei einer Landschaftsanimation demonstriert wurde. Etwas ganz Ähnliches zeigt übrigens derzeit eine andere spektakuläre Münchner Ausstellung, „Flowers Forever“ in der Kunsthalle, aus der Werkstatt von Richard Wagner: Ein Bühnenbildmodell aus der Uraufführung des „Parsifal“. Unvergessen, wie umfassend man dort vor Jahren in der Ausstellung „Walt Disneys wunderbare Welt“ die europäisch-künstlerischen Einflüsse beleuchtete – und das ausschließlich mit Originalen.
Mehr als einmal wurde bei der Eröffnung auf die Bayern-Aufenthalte des Neuschwanstein-Fans Walt Disney verwiesen, der gleichwohl ausgerechnet diese Attraktion bei seinem ersten Deutschlandtrip 1935 um wenige Kilometer verpasste. Tatsächlich beheimatet das Münchner Puppentheatermuseum im Stadtmuseum noch heute die Exponate der ersten Disney-Ausstellungstournee von 1959. Aus Anlass seines aufwendigsten Animationsfilms „Dornröschen“ hatte er seinerzeit gleich drei Versionen einer Präsentation um die Welt geschickt, damals noch großzügig mit Originalzeichnungen ausgestattet. Wer also Disney-Originale der berühmten Hintergrundgemälde dieses Klassikers sehen will, findet sie nur wenige Kilometer weiter, nicht weit vom Marienplatz. Vielleicht muss man den Archivar danach fragen.
Von „Disney 100 – Die Ausstellung“ touren derzeit zwei Versionen, die andere läuft seit Februar in Philadelphia. Einzelstücke wurden einigermaßen gerecht verteilt, im Zweifel aber zugunsten der US-Version: Dort sieht man das Originalmodell des U-Boots „Nautilus“ aus „20 000 Meilen unter dem Meer“, hier das Luftschiff aus „Insel am Ende der Welt“. Dort die Schneekugel aus „Mary Poppins“, hier das Pendant aus „Mary Poppins’ Rückkehr“.
Für den Disney-Konzern ist das Medium massenorientierter Ausstellungen also keineswegs neu, aber möglicherweise zukunftsträchtig. Überall in den Metropolen stehlen derzeit rein digitale Simulationen der Werke von Vincent van Gogh oder Gustav Klimt den traditionellen Kunsthäusern die Schau, und das zahlende Publikum scheint der rein virtuelle Charakter wenig zu stören. Auch das bayerische Unternehmen, das weltweit die technische Produktion der Disney-Schau organisiert, Semmel Exhibitions, hat sich in dieser Wachstumsbranche mit einem Tutanchamun-Spektakel einen Namen gemacht.

Dieser neue Boom kommerzieller Schauen folgt in Deutschland einem jahrzehntelangen Trend der Vernachlässigung öffentlicher Ausstellungsräume abseits des Kunstkontextes. In Köln etwa wurde schon vor zwei Jahrzehnten die städtische Kunsthalle abgerissen. Die Folge ist eine Monopolisierung einer populären und unersetzlichen Vermittlungsform durch die Kunstwelt und ihrer bevorzugten Inhalte.
Der Disney-Konzern wäre dumm, wenn er hier keine Chance sähe, auch abseits der eigenen Firmengeschichte. Mit Filmen wie „Die Wüste lebt“ hatte man sich bereits in der frühen Nachkriegszeit der populären Bildung verschrieben, damals noch kritisch beäugt von einer Öffentlichkeit, die bald ein Wort prägte für die Disney-Sicht der Dinge: „Disneyfication“. Hundert Jahre nach Gründung des erfolgreichsten Medienkonzerns hat sich die Aufregung darüber zu Recht gelegt, die Welt scheint groß genug, um auch die Disney-Version ihrer selbst darin unterzubringen.
Umso wichtiger aber bleibt es, dass entsprechende Ausstellungen auch in öffentlicher Verantwortung entstehen. Um ein Kapitel jedenfalls wäre „Disney 100“ dann mit Sicherheit reicher geworden – den Studio-Streik von 1941 und Walt Disneys anschließende Ressentiments gegenüber der politischen Linken.
Kleine Olympiahalle, München: bis 3. September. www.disneytickets.de