Gibt es Realismus in der Wüste?

In der 70. Ausgabe gibt sich das Filmfestival Locarno ebenso neugierig wie traditionsbewusst. Den Wettbewerb reserviert man für das unabhängige, nicht unbedingt marktgängige Kino.
Wenige Schauspieler können eine Leinwand füllen wie der hagere Harry Dean Stanton. John Carroll Lynch inszeniert in seinem Regiedebüt „Lucky“ das faltige Gesicht bevorzugt in leichter Untersicht, mittig vor dem blauen Wüstenhimmel von New Mexico. Die verknitterte Krempe seines Cowboyhuts denkt nicht daran, zu den Rändern des Breitwandbildes auszuholen. Und doch bringt Stantons Erscheinung einen nicht ganz alltäglichen Hauch von Hollywood nach Locarno.
Im Schweizer Kurort hat man zwar eine der weltgrößten Leinwände auf der Piazza stehen, doch den Wettbewerb reserviert man für das unabhängige, nicht unbedingt marktgängige Kino. Nun, mit „Lucky“ kommt ausnahmsweise beides zusammen, ein kleiner und doch ungemein populärer Film, was sich natürlich gleich herumgesprochen hat.
Eine wegen großer Nachfrage angesetzte Sondervorführung begann am Dienstag mit der ganz unschweizerischen Verspätung von 70 Minuten. Endlos wurde im Sinne des Verleihers überlegt, wer wichtig genug wäre – und dann waren doch mehr als genug Plätze da für alle da. So wie in der kleinen Bar, dem zentralen Spielort in der staubigen Umgebung.
Man erfährt wenig über den 90-jährigen Lucky, der unter allgemeiner Mithilfe geduldig seine Kreuzworträtsel löst – und die großen Worte, die in die kleinen Kästchen passen, später zu Hause in einem gewaltigen Wörterbuch nachschlägt. Dann kommt er am nächsten Tag zurück und teilt seine Erkenntnisse allen mit, ob es nun jemanden interessiert oder nicht: „Realismus ist ein Ding! Es ist eine Lebensauffassung, die Menschen und Dinge so nimmt, wie sie sind.“
Auch wenn man es nicht erwarten würde – in dieser nur äußerlich surrealen Wüste am Rande der USA wird Realismus groß geschrieben. Seine bevorzugten Ausdrucksformen: Fatalismus, Einsilbigkeit und eine mit allen Wassern gewaschene Nüchternheit.
30 Jahre, bevor Wim Wenders und Sam Shepard ihn für ihren Film „Paris, Texas“ entdeckten, hatte Stanton in nahezu jeder Cowboyserie des amerikanischen Fernsehens Nebenrollen gespielt, von „Rawhide“ bis „Rauchende Colts“ (Wenders’ Film lief in Locarno noch einmal als Hommage an die anwesende Nastassja Kinski, die mit einem Ehrenleoparden geehrt wurde). Mit seinen 91 Jahren ist Stanton noch 21 Jahre älter als das Festival. Noch immer wirkt er wie ein Outlaw, auch wenn die Rebellion von „Lucky“ beim stets aufs Neue verhinderten Versuch bleibt, in der Kneipe wie früher eine Kippe anzustecken.
Auch das größte Drama dieses herrlichen Films findet lediglich in ein paar knappen Sätzen statt. Kneipengast David Lynch, übrigens nicht verwandt mit dem Regisseur, beklagt in drei bewegenden Auftritten den Verlust seines treuen Haustiers, einer Schildkröte namens Roosevelt. „Schildkröten sind einzigartige Tiere. Würdig wie Könige und lieb wie Großmütter.“
Ein großer Tierfreund war auch Jacques Tourneur, dem in diesem Jahr die große Retrospektive gilt. 33 Filme führen zurück zu den Anfängen des Regisseurs von „Katzenmenschen“ und „Ich folgte einem Zombie“ ins Frankreich der frühen Dreißiger Jahre. Die Chaplineske „Toto“ aus dem Jahre 1933 ist ein Juwel des frühen Tonfilms – und bereitet in der Liebesgeschichte eines Kleinkriminellen zu einer unabhängig lebenden jungen Frau jener zwanglosen Sexualmoral den Boden, die auch viele seiner späteren Hollywoodfilme auszeichnet. Martin Scorsese lobte Tourneur als einen der großen Bilderstürmer des Studiokinos: Allein das Schattenspiel seiner eigenen Hände generiert das Monster in „Cat People“ (1942); ebenso lässt sein „Leopard Man“ im Folgejahr die Grenzen zwischen Mensch und Tier verschwimmen.
Kein Festival hat ein so unvorhersehbares Programm
Die Gegenwart des Spirituellen, von der Tourneur auch persönlich überzeugt gewesen sein soll, findet ihren Ausdruck in visionären Genrefilmen wie „Ich folgte einem Zombie“ (1943) und dem späten Meisterwerk „Curse of the Demon“ (1957). Doch Locarno wäre nicht Locarno, wenn nicht den kaum bekannten Werken einer Filmographie besondere Aufmerksamkeit zu Teil würde: Vermeinliche B-Ware wie der Western „Great Day in the Morning“ (1956) oder dem Dschungeldrama „Appointment in Honduras“ (1953) zeigen Tourneur als Meister der Farbe, die man nur in Locarno von originalen Filmkopien leuchten sieht. Grenzen werden auch in diesen bislang übersehenen Filmen überschritten, die den strengen Moralcodex Hollywoods genüsslich untergraben – etwa wenn im letzteren der bereits verblassende Glamourstar Ann Sheridan eine schonunglsose Femme Fatale verkörpert: Vor den Augen ihres Ehemanns beginnt sie eine Affäre mit Glenn Ford, der beide zu Geiseln seiner Tropen-Odyssee gemacht hat: Bedroht, von Schlangen, Pumas und Ameisen, die man als Pünktchen auf den Film gemalt hat.
Kein Festival hat ein so unvorhersehbares Programm wie Locarno – und dabei doch ein stärkeres Profil als etwa die Berlinale – denn beliebig ist hier gleichwohl nichts. Die Suche nach dem Neuen hat das Festival seit seinen Anfängen begleitet.
Zum Jubiläum laufen noch einmal die Debütfilme wegweisender Regisseure wie Eric Rohmer, Marco Ferreri, Michael Haneke oder Todd Haynes, deren Karrieren hier begannen. In den letzten Jahren beobachtet man eine Annäherung an Filmemacher aus der bildenden Kunst; gleich drei Filminstallationen der Documenta kann man hier in aller Ruhe in ihren Kinoversionen erleben. Besonders eindrucksvoll ist dabei das 140-minütige Werk „Le Fort des fous“ („Madmen’s Fort“) der Algerierin Narimane Mari. Auf der Basis frühkolonialer Forschungsberichte führt die Filmemacherin ins Algerien des Jahres 1860. Die Dominanz-Phantasien der Eroberer, aber auch Ausbruchsutopien inspirieren zu mitunter spielerischen Choreographien, fotografiert als große Kinobilder. Und ein offenes Spiel mit Laiendarstellern erinnert an einen weiteren Ehrengast dieses geschichtsbewussten Festivals: Altmeister Jean-Marie Straub (84), der einen Goldenen Leoparden für sein Lebenswerk erhält.