Filmfestival in Cannes: Trailer eines Films, den es nicht gibt

Selten ein so hochkarätiges Aufgebot – in Cannes beginnen das 76. Filmfestival.
Ob es in den nächsten zwölf Tagen in Cannes noch glamouröser werden wird, als es am Festivalpalais schon jetzt aussieht? Auf einem ins Monumentale vergrößerten Schwarzweißfoto richtet sich Catharine Deneuve da selbstversunken die Haare, den Strand der Côte d’Azur im Rücken. Am 1. Juni 1968 hat der Fotograf Jack Garofalo das diesjährige Postermotiv eingefangen. Wen kümmerte es wohl an jenem Drehtag von Alain Cavaliers Film „La Chamade – Herzklopfen“, dass das Cannes-Festival gerade unter dem Eindruck der Pariser Mai-Proteste abgebrochen worden war? Den Herzschlag des Kinos bringt so schnell nichts aus dem Takt.
Mit der 79-jährigen Diva, einem Star seit sechzig Jahren, feiert man hier wieder einmal beides, Frankreich und das Kino; eine Liebesgeschichte, der man sich hier stets aufs Neue versichert. Unter dem Aspekt der Geschlechtergerechtigkeit trifft Cannes Liebesbeziehung zum Kino allerdings auch in diesem Jahr der Vorwurf des Disproportionalen: Ein Drittel der Wettbewerbsfilme stammt von Regisseurinnen, das ist mehr als je zuvor, doch der französischen Verein „Collektif 50/50“ kommentiert: „Es geht voran, aber zu langsam.“ Gut möglich, dass die dritte Gewinnerin der Cannes-Geschichte einer dieser sechs Filmemacherinnen ist: Alice Rohrwacher („La Chimera“), Jessica Hausner („Club Zero“), Catherine Breillat („Last Summer“), Justine Triet („Anatomie d’une chute“), Ramata-Toulaye Sy („Banel et Adama), und Kaouther Ben Hania („Olfa’s Daughters“).
Schon den – außer Konkurrenz gezeigten – Eröffnungsfilm „Jeanne du Berry“ inszenierte Maïwenn, ein französischer Regie- und Leinwandstar, sie selbst spielt die Titelrolle an der Seite von Johnny Depp, der in der Rolle Ludwigs XV. eine Art „Comeback-Tour“ beginnt. In absehbarer Zeit wird man ihn noch in „Modigliani“ und – wenn die Gerüchte stimmen – auch in einem wohlbekannten Piratenkostüm erleben.
Cannes hat andere Blockbuster auf Lager: Martin Scorsese zeigt sein Vierstunden-Epos „Killers of the Flower Moon“ mit Johnny Depp als gierigem Rancher-Sohn, der amerikanischen Indigenen in einem Kampf um Ölbohrrechte wertvolles Land wegnehmen möchte. Und Harrison Ford wird mit Regisseur James Mangold „Indiana Jones und das Rad des Schicksals“ vorstellen, den angeblich letzten Teil der Filmreihe. Auch diese beiden Premieren konkurrieren nicht im Wettbewerb, der freilich hat sein eigenes Star-Aufgebot.
Zu Wes Andersons Tragikomödie „Asteroid City“ werden Scarlett Johansson, Jason Schwartzman, Tilda Swinton und Tom Hanks erwartet. Auch sein amerikanischer Autorenfilmemacher-Kollege Todd Haynes hat selten Probleme, seine anspruchsvollen Dramen prominent zu besetzen. In „May December“ stolpert Natalie Portman als Hollywoodstar in das Leben einer von Julianne Moore gespielten ehemaligen Medienberühmtheit, um einen Film über sie zu drehen.
Cannes ist wahrscheinlich das einzige Festival, dem man seinen hohen Anteil verdienter Regie-Veteranen – wie in diesem Jahr bereits zu lesen – als Überalterung zum Vorwurf macht. Der frühere Gewinner Wim Wenders (77) ist als erfolgreichster Deutscher zum zehnten Mal dabei; sein Spielfilm „Perfect Day“ erzählt von einem Japaner, der als Putzkraft arbeitet.
Er kann nicht aufhören
Ken Loach (86) besitzt sogar schon zwei Palmen und ist zum 15. Mal in Cannes. Immer wieder erklärte er seine Karriere für beendet, um dann auf Grund sozialer Missstände in Großbritannien doch wieder ein Thema zu finden, dass nach filmischer Umsetzung schreit. Sein neuer Film „The Old Oak“ ist nach dem letzten Pub in einer nordenglischen Industriestadt benannt. Die billigen Häuser der entvölkerten Stadt werden nun von syrischen Flüchtlingen bewohnt.
Die Italiener Nanni Moretti (69) und Marco Bellocchio (83) waren jeweils neun und acht Mal dabei. Ersterer aber drehte in den letzten Jahren einige der besten Filme seiner Karriere.
Sogar vom verstorbenen Jean-Luc Godard ist noch etwas zu sehen, wenn auch nur der 20-minütige Trailer eines Films, den es nicht gibt. Der große Filmkünstler starb während der Arbeit an „Drôles de Guerres (Phoney Wars)“, doch es würde nicht überraschen, wenn sich darin noch überaus aktuelle Kommentare zum gegenwärtigen Kriegsgeschehen fänden.
Was aber erwarten wir wohl mit größter Spannung? Vielleicht die Werke jener Filmemacherinnen und Filmemacher, von denen nicht alle paar Jahre etwas Neues kommt. „Last Summer“ ist Catherine Breillats erster Film seit zehn Jahren, sechs Jahre lang gab es nichts zu sehen von Aki Kaurismäki, der jetzt mit „Falling Leaves“ zurückkehrt. Besonders gespannt aber sind wir auf einen der größten unter den vermeintlich Unproduktiven, den Briten Jonathan Glazer. „Zones of Interest“, sein erster Spielfilm nach zehn Jahren, erzählt mit den Deutschen Christian Friedel and Sandra Hüller von einem Nazi Kommandanten und seiner Frau, die von einen schönen Haus mit Garten träumen – gleich neben einem Konzentrationslager.