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Filmfestival GoEast: „Wir sind Bürger zehnter Klasse“

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„Remember to Blink“. Foto: Austeja Urbaite
„Remember to Blink“. Foto: Austeja Urbaite © Austeja Urbaite

Was dürfen die, die das Geld haben? Was dürfen die, die erwachsen sind? Eindrücke vom Filmfestival GoEast in Wiesbaden. Von Johanna Krause

Achtzehn Minuten Filmmaterial über den armenischen Völkermord sind wieder aufgetaucht und waren jetzt auf der 23. Ausgabe des Wiesbadener Filmfestivals GoEast zu sehen. Über den Holocaust wird längst gesprochen, der armenische Genozid ist nach wie vor von einer staatlichen Leugnung seitens der Türkei begleitet. Wie lässt sich beharrliches Schweigen überwinden? Die armenische Filmemacherin Inna Sahakyan trägt mit ihrem Film „Aurora’s Sunrise“ dazu bei. Sahakyan schildert die Brutalität, mit der eine ethnische Gruppe fast gänzlich ausgelöscht wurde, und rekonstruiert mittels einer verblüffenden, malerischen Animation die entsetzlichen Ereignisse: Aus einer Kombination aus originalem Archivmaterial des Stummfilms „Auction of Souls“ (1919) und Animation wird die Biografie der Armenierin Arshaluys Mardiganian erzählt – eine der wenigen Überlebenden des Genozids der 1910er-Jahre, ihre Großfamilie fiel fast vollständig dem Genozid zum Opfer.

Im Dokumentarfilm „Flotacija“ hat das chinesische Bauunternehmen Zijin im ostserbischen Majdanpek das Sagen. Selbst auf öffentlichen Plakaten sind inzwischen chinesische Schriftzeichen zu lesen. Die Kupferproduktion steigt, die Produktionskosten sinken. Zijin soll Arbeitsplätze sichern, hält sein Versprechen jedoch nicht. Madjanpek ist Mine, die Mine ist Madjanpek. Von oben betrachtet blickt man auf die staubige Kraterlandschaft. Bagger um Bagger walzen über eine der größten Kupferminen in Serbien. Der Mensch darin ist nur stecknadelgroß. Magische Stimmungsbilder tanzender Luftblasen in Kupferschlacken, des strahlend blauen Himmels und grauer Betonbauten treffen auf realistische Aufnahmen von Armut, Wirtschaftskrise, Enteignung und Widerstand.

Sie verdient 17 Euro im Monat

Desa, die Witwe des Gewerkschaftsvorsitzenden, kämpft für die Rechte der Beschäftigten in ihrer geliebten Heimat Madjanpek. Seit 50 Jahren lebt sie dort. 2000 serbische Dinar Monatsgehalt erhält sie, das entspricht etwa 17 Euro: „Wir sind Bürger der zehnten, statt der zweiten Klasse“, bemerkt sie. Ihr Bruder Dragan verbrachte 42 Jahre in der Mine. In Ostserbien haben 120 Jahre Bergbau erhebliche Auswirkungen auf Land und Gewässer. Blei und Schwefeloxid verpesten die Luft, die Privatisierung des Bergbaus nimmt den Menschen ihre Zukunftsperspektive. Die Regisseurinnen Alessandra Tatic und Eluned Zoë Aiano weisen auf Diskurse von Ausbeutung, Arbeit und Umwelt hin. Viel zu selten gelangen solche Filme zu einem westeuropäischen Publikum.

Die ungarische Regisseurin Fanni Szilágyi schafft, basierend auf dem Drehbuch von Zsófi Lányi, in ihrem Debütfilm „Not a Thing“ einen Kosmos der Intimität. Es entsteht ein feministisches Spiegelbild auf kleinem Raum. In dem Geschwisterporträt geraten die Leben von Zwillingen in den Mittdreißigern aus dem Takt; die Doppelrolle spielt darin Natasa Stork. Menschen, die einander zutiefst vertraut sind und jetzt doch neu auf ihre Leben blicken. Die eine reiche, verheiratete Hausfrau mit einem Neugeborenen, die andere alleinstehende Ärztin mit geringem Einkommen. In zwei Kapiteln tut sich eine Vielzahl von Sichtweisen auf, es geht um Liebe, Verbundenheit, Neid, Angst und Freiheit. Die Bildsprache von Kameramann Gabor Szilágyi ist so fragil wie agil und reichert den Film konstant mit teils symbolischen Details an.

Wie weit ist Liebe von Egoismus entfernt? Diese Frage stellt die litauische Regisseurin Austeja Urbaite in ihrem Adoptionsdrama „Remember to Blink“. Ein kinderloses französisches Ehepaar hat zwei Geschwister aus Litauen adoptiert. Die zweisprachige Studentin Gabrielé wird eingestellt, um für eine mühelose Eingewöhnung der Kinder zu sorgen. Kulturelle Unterschiede, unterschiedliche Werte und Erziehungsmethoden führen schnell zu Konflikten zwischen den Erwachsenen. Urbaite, bekannt für ihre preisgekrönten Kurzfilme „The Etude“ (2013) und „Bridges“ (2015), untersucht hier auf direkte und provokative Art die Auswirkungen von Egoismus, Arroganz, Angst, Eifersucht und liebevoller Hingabe. Sie nimmt in den Blick, wie Grenzen des Respekts zwischen Kindern und Erwachsenen überschritten werden. Wie viel Recht hat ein Erwachsener, auf die Identität eines Kindes einzuwirken, ohne dem Kind eine Wahl zu lassen?

Der öffentliche Diskurs entscheidet, wann ein Leben zu sehen und ein Tod zu beklagen ist und wann nicht. Film hat das Potenzial, den Dialog mit dem Rest der Welt herzustellen, in der Festival-Auswahl konnte dieses Potenzial sich acht Tage lang ausbreiten.

Natasa Stork als Doppelrolle in „Not a Thing“. Foto: Fanni Szilágyi
Natasa Stork als Doppelrolle in „Not a Thing“. Foto: Fanni Szilágyi © Fanni Szilágyi

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