Digitales Filmfestival Go-East: Es war einmal die Jugend

Von Kasachstan, Georgien und Sibirien bis Kroatien: Das Filmfestival Go-East zeigt im diesjährigen Wettbewerb Zerreißproben des Aufwachsens zwischen Tradition und 21. Jahrhundert.
Auf den ersten Blick hängt da schlicht ein großer QR-Code an der Wand im Schulgebäude eines kasachischen Kaffs. Jene quadratische Anordnung von Pixeln, die in den vergangenen drei Jahrzehnten zum wandelbaren Tor in unendliche digitale Weiten wurde. Auf den zweiten Blick erkennt man darin aber auch einen ornamentalen Wandschmuck, gelb gerahmt, der ein traditionelles Webmuster sein könnte – zwei Welten legen sich in einem Objekt übereinander.
Es ist nur ein beiläufiges Detail im kafkaesken Thriller „Ulbolsin“ von Adilkhan Yerzhanov, doch im Kleinen beinhaltet es einen größeren Konflikt: Tradition und Gegenwart prallen in einer Reihe spannender Filme im Wettbewerb des diesjährigen Go-East-Festivals aufeinander, das seit Dienstag coronabedingt einmal mehr nicht rund um die zauberhafte Caligari Filmbühne in Wiesbaden, sondern digital stattfindet. Und die Leidtragenden sind eigentlich immer junge Menschen.
In „Ulbolsin“ will die gleichnamige Hauptfigur mit ihrer jüngeren Schwester das Land verlassen – am besten sofort. Selbst hat sie den Absprung aus dem Dorf bereits geschafft und arbeitet in der Stadt als Schauspielerin für Werbefilme. Auch ihre Schwester soll nun eine Chance auf ein unabhängiges, selbstbestimmtes Leben bekommen, Ulbolsin will sie nur noch schnell in der erwähnten Schule abmelden. Mit farbenfrohen Jacken und Sonnenbrillen kommen die beiden Kaugummi kauend vorbei an Soldatenpatrouillen ins Heimatdorf, das schon bald tief im Winternebel versinken wird.
Aus der spontanen Abmeldung wird nichts. Eine nicht mal an Bestechungsgeld interessierte Schulbeamtin wimmelt sie ab – und dann wird die Schwester in einem schwarzen SUV entführt. Es folgen Filmminuten, die absichtlich nicht Popcorn-packend wie Liam-Neeson-Actionfilme inszeniert sind, sondern schon bald den Entführer enttarnen und den verzweifelten Kampf gegen die patriarchale Gewalt zeigen.
Kurz vor dem Showdown erklärt der Entführer Ulbolsin die Bedeutung ihres Namens: Die Eltern hätten ihn ihr gegeben einzig in der Hoffnung, dass das nächste Kind nicht auch ein Mädchen sein werde. „Es ist nicht schlecht, eine Frau zu sein“, sagt er ihr auf dem Weg zur Zwangshochzeit, „sie sind auch Menschen.“
Ähnlich verwickelt ist die Lage der jungen Ariadna im Film „Bebia, à mon seul désir“ von Juja Dobrachkous. Sie hat sich verfangen in einem Netz aus Erinnerungen, in einem Generationengeflecht und dem einsamen Leben in der Fremde. Als ihre Großmutter stirbt, reist das Model von einer Pariser Modenschau zur Trauerfeier zurück nach Georgien.
Bald nach der Ankunft drückt ihr das Familienoberhaupt eine Tasche mit Fadenspulen in die Hand. Als Jüngste soll sie – so ist es Brauch – eine Verbindung herstellen zwischen Sterbebett im Krankenhaus und dem Ort der Aufbahrung: 25 Kilometer Fußmarsch, um der Toten ihre Seele zurückzuführen. Widerwillig spinnt sie also den Faden über Stock, Stein und Wasserläufe durch das georgische Hügelland, bis aus ihr Verwirrung und Wut herausbrechen: „Es ist das 21. Jahrhundert, warum zum Teufel mache ich das alles?“
Go-East digital erleben
Das Go-East Festival des mittel- und osteuropäischen Films Wiesbaden gibt es seit 2001. Bereits 2020 musste es durch die Kinoschließungen während der Corona-Pandemie weitgehend ins Internet ausweichen. In diesem Jahr zeigt das vom Deutschen Filminstitut veranstaltete Festival 92 Filme aus 38 Ländern ausschließlich online. Das Programm ist auf mehrere Sektionen verteilt. Im Zentrum des Wettbewerbs steht der mit 10 000 Euro dotierte Preis für den Besten Film.
Buchungen sind noch bis zum 26. April möglich (6,50 Euro pro Film). Ein Film steht dann für 48 Stunden zum Abruf bereit. www.filmfestival-goeast.de/
Verworren sind auch Bildsprache und Erzählstruktur des Films. Die von Veronika Solovyeva wunderbar gefilmten Schwarzweiß-Tableaus zeigen mal in Panorama-Einstellungen die Figuren verloren in der Landschaft, wandern sonst aber meist suchend von Trauergast zu Trauergast und haben dabei oft nur Platz für Hände, Füße und angeschnittene Köpfe und Körper – so als bliebe der Blick aufs Ganze stets verwehrt.
Dazwischen drängen sich Kindheitserinnerungen der Protagonistin: unbeschwerte Tage mit Schulkameradinnen, die jedoch zunehmend von der herrischen Großmutter überlagert werden: „Kinder sind nichts Besonderes“, bellt sie einmal, „ohne sie kommt man besser aus.“ Mehr und mehr entsteht ein mystisch aufgeladenes Labyrinth, dessen Ausgang die Heldin mit antikem Vorbild nur unter hohem emotionalem Aufwand findet. Bemerkenswert dabei ist die sich steigernde Fragilität, die Schauspielerin Anastasia Davidson ihrer Figur virtuos verleiht.
Alles andere als zerbrechlich ist Ivanna. Der Dokumentarfilm „Das Leben der Ivanna“ des 1992 in Guatemala geborenen Filmemachers Renato Borrayo Serrano hat sie und ihre fünf Kinder in der eisigen Kälte der sibirischen Tundra begleitet. Ein Schneesturm rüttelt an den Wänden des Nomadenhauses aus Rentierfell. Drinnen toben auf rund sechs Quadratmetern die fünf Knirpse. Was schon auf Film gebannt kaum auszuhalten ist, erträgt die junge Mutter mal mit stoischer Ruhe und Zigarette im Mund, mal mit klaren Ansagen.
Trotz der Beschwerlichkeiten würde sie gerne mit ihren Kindern das traditionelle Leben des kleinen indigenen Volks der Nenzen in der nächsten Generation fortführen. Doch vor allem die Abwesenheit ihres Mannes, der von Alkohol und Stumpfsinn paralysiert scheint, zwingt sie rein wirtschaftlich zu einer Änderung und zum Umzug in die Stadt. Diesen Weg beobachtet der junge Filmemacher, der sein Handwerk in Russland gelernt hat, mit Beharrlichkeit, teils auch Leichtigkeit und starken Bildern.
Wie der gewebte QR-Code werden die drei Filme zu Vexierbildern, die zwei Lebensentwürfe in sich tragen: Tradition und 21. Jahrhundert. Im späten Mittelalter waren Vexierbilder eine Möglichkeit für Zeichner oder Zeichnerinnen, mehr oder weniger versteckt Missstände aufzuzeigen oder eine satirische Überspitzung darzustellen. Analog wird in den drei exemplarischen Filmwerken aus der Spannung der Gegensätze heraus eine Anklage laut, die auf die Zerreißproben junger Menschen quer durch die Länder hinweist.

Ein Gegenstück liefert ein weiterer Dokumentarfilm im Wettbewerb: „Es war einmal die Jugend“ blickt mit einer schier endlosen Sammlung eindrucksvoller Schwarzweiß-Fotografien auf das kurze Leben eines kroatischen Underground-Künstlers zurück. Für Marco aus Zagreb, der bereits Anfang der Nullerjahre mit Mitte 20 an einer Überdosis starb, war das Traditionellste vielleicht der rund 15 Jahre alte Commodore 64, auf den er mit seinem Freund die Nächte durchzockte.
Dieser Freund ist es auch, der ihm nun ein filmisches Denkmal setzt: „Vielleicht ist dies der Film, bei dem er Kamera und ich Regie hätte führen sollen“, sagt Ivan Ramljak am Ende seiner filmischen Hommage im Voiceover.
Für seine Spurensuche kombiniert er die Bilder des Verstorbenen mit schwelgerischen Erzählungen von Weggefährten und Freundinnen. In den besten Momenten entwickelt dieses Zusammenspiel einen narrativen Sog, der an Chris Markers „La Jetée“ erinnert. Und zugleich gelingt die Schilderung einer hedonistischen Subkultur zwischen Zagreb und Ljubljana, die sich nach dem Krieg nicht mit den Fragen nach Gestern und Morgen aufhält.