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Filmfestival Cannes: Im Schatten alter Meister

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Von: Daniel Kothenschulte

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Ein Ehedrama als Gerichtsfilm: Sandra Hüller in Justine Triets „Anatomy of a Fall“. Foto: Festival de Cannes
Ein Ehedrama als Gerichtsfilm: Sandra Hüller in Justine Triets „Anatomy of a Fall“. Foto: Festival de Cannes © Festival de Cannes

Endspurt in Cannes: Leichthändiges von Wim Wenders und Marco Bellocchio überstrahlt Nanni Morettis Comeback als Komiker. Und Sandra Hüller triumphiert in einem Gerichtsdrama der Französin Justine Triet.

Stille ist ein seltenes Geräusch in Cannes. So selten, dass sich ein gut organisierter Kollege am Ende des Festivals einen halben Tag freihält, um eine Fähre auf eine der kleinen Inseln vor der Küste zu nehmen: Vorzugsweise die bei Touristinnen und Touristen weniger beliebte Klosterinsel Île Saint-Honerat. Schon nach ein paar Hundert Metern sind die Regler am Mischpult des medialen Overkills vollkommen neu justiert.

Andächtiges Schweigen allerdings begleitete die Vorführung des „letzten Godard“: Unter dem Titel „Bande annonce“ („Trailer“) präsentierte das Festival eine Serie abgefilmter Bildcollagen und handgeschriebener Texttafeln zu seinem letzten Filmprojekt „Funny Wars“. Nur ab und zu durchbrechen Fragmente aus dem Furioso eines Streichquartetts die Stille. Verweigerten sich schon Godards fertige Essayfilme eindeutigen Interpretationen, wird diese Skizze wohl immer ein Rätsel bleiben. Was den im Titel angedeuteten Humor angesichts des ernsten Themas betrifft, gibt vielleicht die erste Textweisheit eine Ahnung: „Es ist schwer, in einem dunklen Raum eine Katze auszumachen, insbesondere, wenn keine Katze da ist.“

Zu einem wirklich surrealen Erlebnis wurde die Vorführung im Salle Debussy, Godards Lieblingskino im Festivalpalais, von meinem Balkonplatz aus. Eine echte Katze machte sich da bemerkbar, die freilich auch im Hellen nicht zu finden war. Wer einmal versucht hat, sich ohne Ticket in eine begehrte Vorführung zu schleichen, weiß um das weitverzweigte Lüftungssystem dieses Mammutbaus, einer ausgeklügelten Sehmaschine aus Beton. Wer weiß, was sich noch alles hinter der Holzverkleidung tummelt.

Nicht zu übersehen ist bei diesem Festival Wim Wenders. Nachdem er zu Beginn seinen Anselm-Kiefer-Porträtfilm gezeigt hatte, beehrte er gleich zwei Gedächtnisvorstellungen für den von ihm verehrten japanischen Filmpoeten Ozu Yasujiro. Im Remake seines Essayfilms „Chambre 666“ durch die Filmemacherin Lubna Playoust, „Chambre 999“, zeigt er sich dann auch auf der Leinwand, wo er sich ungewöhnlich pessimistisch über die Zukunft des Kinos äußert: „Wir hatten keine Ahnung, wie schnell und gefährlich die digitale Revolution voranschreiten würde“, erklärt er und lächelt dazu verschmitzt wie ein altersweiser Clown. Vielleicht weil er längst wusste, dass er mit seinem nächsten Spielfilm, der nun in Cannes Premiere hatte, ein Manifest fürs analoge Glücklichsein in petto hatte.

Gedreht in Tokio, überrascht „Perfect Days“ mit einem der größten japanischen Leinwandstars, Kôji Yakusho, in der Rolle eines Kloputzers. Seine Arbeit vollbringt er mit der Würde eines einsamen Samurai, wobei ihm allerdings die japanische Liebe zu Ästhetik im Alltag zugute kommt.

Viele der öffentlichen Klohäuschen in Tokio sind bewunderte Meisterwerke funktionaler Architektur, und selbst die Uniform des Personals wirkt ausgesprochen stilvoll. Das stille Glück, das dieser Held der Arbeit im Leben findet, untermalt er sich selbst mit alten Musikkassetten. Viele der Songs stammen schon aus der Zeit von Wenders’ frühen musikalischen Experimentalfilmen „3 amerikanische LPs“ und „Summer in the City“.

Das Leitmotiv liefert der Lou-Reed-Klassiker des Filmtitels. Auch im Filmstil findet Wenders zurück zum experimentellen Minimalismus, wenn er etwa dem Blick seines Helden auf das abstrakte Lichtspiel einer Hauswand folgt. Die renommierte Schwarzweißfotografin Donata Wenders inszenierte kleine Traumsequenzen und lieferte die Schnappschüsse aus der Kleinbildkamera des Protagonisten. Neben Kaurismäkis liebenswertem Beitrag ist es schon die zweite Chaplineske im Wettbewerb, und man bewundert die Selbstverständlichkeit abseits aller Prätention.

Gern würde man das auch dem Italiener Nanni Moretti attestieren, der in „Il sol dell’avvenire“ weit weniger glücklich in seine eigenen Fußstapfen tritt. Im autobiografischen, essayistischen Filmstil von Werken wie „Liebes Tagebuch“ spielt er einen Regisseur in der Schaffenskrise. Sein aktuelles Projekt ist ein historischer Spielfilm über die Kommunistische Partei Italiens, die sich während des Ungarn-Aufstands vom Stalinismus löst.

Gern hätte man diesen Film im Film komplett gesehen, in dem ein ungarischer Zirkus sein Rom-Gastspiel zur Republikflucht nutzt. So ist er nur das Füllmaterial ebenso larmoyanter wie selbstverliebter Exkurse über angebliche Krisen der Kultur.

Mit didaktischem Eifer stürmt sein Filmemacher das Filmset seiner Frau, einer Produzentin, wo ein Jungfilmer gerade eine Gewaltszene dreht. Es ist nicht mehr viel übrig vom anarchischen Humor, in dem sein filmisches Alter Ego in „Liebes Tagebuch“ einen Filmkritiker wegen geschmacklicher Verfehlungen aus dem Schlaf weckte. Nun untermauert er seine Tirade gegen das hässliche, gewaltverherrlichende Filmbild mit einem Gastauftritt von Renzo Piano, welche Kompetenz auch immer der Stararchitekt in diesen Fragen hat.

Sein älterer Kollege Marco Bellocchio wäre wohl sicher vor Morettis moralischen Attacken. In einem wahren Schaffensrausch gelingt dem 83-Jährigen gerade ein imposantes politisches Spätwerk. In „Rapito“ („Entführt“) kehrt er zurück zur Form des Kostümdramas, um einen historischen Fall von kirchlichem Antisemitismus auszubreiten. 1858 ließ in Mailand die katholische Kirche einen jüdischen Jungen entführen, um ihn zum Katholizismus umzuerziehen. Die äußere Opulenz päpstlicher Machtinszenierungen kontrastiert dabei mit der Intimität eines Internats- und Familiendramas, das weit auf die Schrecken des 20. Jahrhunderts vorausblickt. Wahrscheinlich zu klassisch für einen Preis in Cannes, ist Bellocchios eindringliches Drama doch weit mehr als nur das Virtuosenstück eines großen alten Meisters.

Nun war es ja gerade die Präsenz der alten Männer, für die dieses Festival in der französischen Presse vorab kritisiert wurde. Tatsächlich ist es ganz im Gegenteil das Werk der 44-jährigen Französin Justine Triet, dem hohe Chancen auf die Goldene Palme zugesprochen werden. Auch das als Gerichtsfilm ausgespielte Ehedrama „Anatomy of a Fall“ ist klassisches Kino ohne äußerliche Originalität, als solches aber so brillant geschrieben und gespielt, dass man es gebannt verfolgt.

Sandra Hüller spielt die Angeklagte, eine bekannte Autorin, die des Mordes an ihrem Mann beschuldigt wird, dessen Leiche das Kind des Paares tot vor dem alpinen Landhaus findet. Indizien wie die heimliche Tonaufnahme eines Ehestreits fügen sich wie Puzzleteile zu einem fein beobachteten Psychodrama um die Hierarchien einer Künstlerehe. Was auf den ersten Blick konventionell anmutet, entwickelt einen erstaunlichen Nachhall, denn wann gelingt das oft bemühte Genre des Gerichtsfilms schon derart befriedigend? Man kann sich nicht vorstellen, dass gerade Jurypräsident Ruben Östlund, selbst ein Meister des geschliffenen Dialogs, bei der Preisverleihung am Samstag an diesem Werk vorbeigehen wird.

Die Würde eines Kloputzers in Wim Wenders’ „Perfect Days“. Foto: Festival de Cannes
Die Würde eines Kloputzers in Wim Wenders’ „Perfect Days“. Foto: Festival de Cannes © Festival de Cannes

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