„No. 7 Cherry Lane“, „About Endlessness“, „Babyteeth“: Sehnsucht nach dem alten Hongkong

Ein überdurchschnittlicher Wettbewerb überrascht bei den Filmfestspielen Venedig mit Regie-Veteran Yonfan und mit einer fabulösen Debütantin aus Australien.
Wenn ein gepeinigter Zeitgenosse ein Holzkreuz eine steile Stockholmer Straße heraufschleppt, angetrieben von Peitschenhieben und beäugt von neugierigen Passanten, dann ist man in der Welt von Roy Andersson. „About Endlessness“ hat der Schwede sein neuestes filmisches Bilderbuch genannt, aber wahrscheinlich hätte schon jeder frühere Spielfilm des 76-Jährigen diesen Titel tragen können.
Das Leben ist ein langes Sterben in seinen tiefschwarzen Tableaus, die er vorzugsweise im eigenen Heimstudio realisiert, damit sich auch nicht zufällig ein Sonnenstrahl hinein verirrt. Diesmal hat ihn unter anderem die Film- und Medienstiftung Nordrhein-Westfalen dabei unterstützt; er dankt es mit einem leichten Deutschlandbezug: Einmal schwebt über einem liebevoll gebastelten Modell des kriegszerstörten Köln ein Chagall’sches Liebespaar hinauf in den wolkigen Himmel.
Und für wen dieses jenseitige Motiv noch zu aufbauend ist, für den gibt es ein kurzes Wiedersehen mit Hitler im Führerbunker. Als ihn einer seiner Adjutanten unvermittelt mit einem „Sieg Heil!“ aufheitern möchte, verzieht der Angesprochene keine Miene, was der Szene auch schon ihre heruntergespielte Pointe gibt.
Gute Laune ist ein seltenes Gut bei dem ehemaligen Werbefilmer, dessen Humor auch hier wieder einmal polarisiert. Das Festival am Lido weiß schon, warum es seinen Film nach einer ganzen Festivalwoche platziert hat. Da fühlt sich der schlechter gelaunte Teil der Kritikerschar schon arg gebeutelt und das Ende ist noch nicht in Sicht. Unwahrscheinlich, dass es Andersson, dessen Bilder sich diesmal weniger sinnstiftend aneinanderfügen wie beim letzten Mal, gelingen wird, eine Jury zum Hauptpreis zu verführen.
Filmfestspiele Venedig: Polanskis „J’accuse“ gilt als unwahrscheinlicher Gewinner
Hellsehern macht es Jurypräsidentin Lucrezia Martel wohl besonders schwer. Bei der Eröffnungspressekonferenz hatte sie Direktor Alberto Barbera offen widersprochen, als er für den Regisseur Roman Polanski eine Trennung von Mensch und Werk einforderte – und für sich eine differenzierte Sicht reklamiert. Polanskis Kritikerfavorit „J’accuse“ gilt seitdem als unwahrscheinlicher Gewinner.
Aber man kann sich andererseits auch kaum vorstellen, dass die Jury Todd Phillips’ überaus beliebtes Batman-Prequel „Joker“ eines Goldenen Löwen für würdig hielte – ein höchst effektvolles und unterhaltsames, aber epigonales Werk mit streitbarem politischen Subtext.
Melancholiker, die auch Bonbonbuntes akzeptieren, werden dem Hongkong-Chinesen Yonfan den Vorzug geben. Nach zehn Jahren hat er wieder einen Film gedreht, und sich in „No. 7 Cherry Lane“ zugleich erstmals in digitaler Animation versucht, dies allerdings in einem eleganten graphischen Stil.
Yonfan, der auch als bildender Künstler arbeitet, rührt eine ähnliche Farbpalette an wie Wong Kar-wai bei „In the Mood for Love“, wenn er in das versunkene Hongkong der sechziger Jahre führt. Ein gutaussehender Student erobert als Privatlehrer mit charmanter Zurückhaltung gleich zwei Herzen; mehr als mit der attraktiven Schülerin scheint ihn mit ihrer Mutter zu verbinden. Gemeinsam pflegen die beiden eine Leidenschaft für französische Schwarzweißfilme. Gleich drei Simone-Signoret-Klassiker begegnen uns in langen animierten Paraphrasen, und sie erinnern nicht allein an eine untergegangene Kinokultur. Die Wehmut, die dieses unwiderstehliche Melodram im Zuschauer wecken wird, gilt vor allem einem Hongkong, das spätestens mit der Übernahme durch die Volksrepublik China Geschichte war.
Der 71-jährige Yonfan hat die Zeit um 1967 erlebt, die plötzlich mit ihren Straßenprotesten eine nur scheinbare Aktualität bekommt – solidarisierten sich viele Studenten doch damals mit den Kommunisten. Regieveteran Yonfan, der mit seinen romantischen Hongkong-Klassikern der achtziger Jahre zwischen westlicher und östlicher Popkultur vermittelte, bezeugt hier eine unbesungene Jugendkultur. Denn den zurückhaltenden Flaneur im Mittelpunkt dieses traumhaften Films zieht es eher in konservative Leinwanddramen wie „Goldhelm“ oder „Das Narrenschiff“.
Filmfestspiele Venedig: „Saturday Fiction“ - langweiliges Blockbuster-Kino aus China
Konservativ im langweiligen Sinne ist dagegen das chinesische Blockbuster-Kino im Wettbewerb. Auch Lou Ye führt in „Saturday Fiction“ in eine vom Kino oft besuchte, vergangene Metropole – das Shanghai der japanischen Besatzungszeit 1941. Gong Li spielt die Hauptrolle eines Leinwandstars, der ein Theaterengagement als Vorwand für Spionageaktivitäten dient.
Das erinnert ein wenig an Truffauts Widerstandsdrama „Die letzte Metro“, soll aber zugleich aussehen wie ein szeniger Neo-Noir-Thriller. Doch das digitale Schwarzweiß ist ohne Atmosphäre, und Lou Ye setzt die zahlreichen Schießereien ungelenk und ohne Raumgefühl in Szene. Schon in besseren Spionagefilmen kann man sich manchmal als Zuschauer verirren, hier bleibt man weitgehend unbeteiligt.
Auch in Venedig zu sehen: Laurie Andersons Mondfahrt und die Wettbewerbsbeiträge „The Painted Bird“ und „The Domain“
Ganz anders in der ersten wirklichen Neuentdeckung dieses Festivals. Die Australiern Shannon Murphy zeigt mit „Babyteeth“ ihren ersten Spielfilm als nur eine von zwei Frauen im Wettbewerb (neben Haifaa Al-Mansour aus Saudi-Arabien). Gibt es ein Wort für die spezielle Variante einer Coming-of-age-Geschichte über eine Jugendliche, die weiß, dass sie sterben muss? Nach dem Theaterstück von Rita Kalnejais erzählt das delikate Kammerspiel zugleich von einer ersten Liebe. In einem liebevollen Elternhaus lebt der Teenager Milla (Eliza Scanlen) mit seiner tödlichen Krankheit, als ändere sich sonst nichts am Leben.
Alle spielen dabei mit, bis das Mädchen zum Schrecken ihrer Eltern einen verelendeten Drogendealer mit nach Hause bringt. Der unverhoffte Sinn, den dies ihrem Leben gibt, sorgt bei den andern für wohlverdientes Chaos. Aber auch die Konventionen eines Teenagerfilms stehen plötzlich auf dem Kopf – denn der in feinen kurzen Episoden erzählte Film will bei aller Tragik partout nicht davon ablassen, eine Komödie zu sein.
Und so kommt das Festival am Lido doch noch zu seinem Außenseiterfavoriten.
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