Film ohne Grenzen

Starkino oder Kunst, Poesie oder Politik? Heute eröffnet die 73. Berlinale – und zeigt das Kino mehr denn je am Scheideweg.
Einmal im Jahr versammelt sich die Filmwelt in Berlin. Jedenfalls jetzt wieder. Bereits in weiter Ferne erscheint die Lockdown-Ausgabe 2021, als Jurys und Filmkritik ihre Arbeit per Stream im Homeoffice erledigen mussten. Und auch an das vergangene Jahr mag man sich nicht mehr gern erinnern, als eine auf sechs Tage verkürzte Berlinale auf dem Höhepunkt der Infektionszahlen tägliche Tests verlangte. Zurück ist die Reiselust, auch in Hollywood: Die 32-jährige Schauspielerin Kristen Stewart ist die jüngste Jury-Präsidentin der Festival-Geschichte.
Der Star aus „Twilight“, „Spencer“ und zuletzt „Crimes of the Future“ hat den Vorsitz über eine mehrheitlich mit Frauen besetzte Jury inne, auch das eine Besonderheit dieser Festivalausgabe; mit dabei neben der deutschen Regisseurin Valeska Grisebach unter anderem die iranische Schauspielerin Golshifteh Farahani. Der Star aus Asghar Farhadis Berlinale-Film von 2009 „Alles über Elly“ hat seiner Heimat aufgrund von Repressalien längst den Rücken gekehrt und lebt heute in Paris.
Die katastrophale Menschenrechtslage in dieser bei der Berlinale oft so unbeschwert gefeierten Filmnation wird eines der Themen dieser Berlinale sein. Jafar Panahi, Gewinner eines Goldenen Bären, befindet sich derzeit im Hungerstreik, ein anderer Träger der höchsten Festivalauszeichnung, Mohammad Rasoulof, konnte das Folter-Gefängnis Evin zwar vor einigen Tagen verlassen, wurde aber gleich mit einer neuen politisch motivierten Anklage belegt, auf die eine drakonische Freiheitsstrafe steht. Unter dem Titel „Sieben Winter in Teheran“ widmet sich ein Dokumentarfilm von Steffi Niederzoll in der Sektion „Perspektive Deutsches Kino“ dem Justizmord an der Studentin Reyhaneh Jabbari, die ihren Vergewaltiger erstach und dafür hingerichtet wurde. Private Videoaufnahmen porträtieren die junge Frau, die durch eine Leugnung der Notwehr-Situation ihr Leben hätte retten können.
Das traditionell politischste der großen Festivals befindet sich an einem Scheideweg. Gerade das Arthouse-Kino kämpft nach dem Ende der Lockdowns um sein Überleben; die kommerziellen Streaming-Dienste bieten anspruchsvollen Filmemacherinnen und Filmemachern nur in wenigen Fällen sichere Häfen. Filmfestivals sind da wichtiger als je zuvor. Wo sonst erhalten anspruchsvolle Filme eine derartige Öffentlichkeit? 1951, als die Berlinale aus der Taufe gehoben wurde, vergab noch das Publikum die Preise. Den Gewinner von damals, Walt Disneys „Cinderella“, zeigt die Disney-Company jetzt in restaurierter Fassung.
Unter ihrem Direktor Carlo Chatrian, der vorher das auf radikales Autorenkino spezialisierte Festival Locarno leitete, zieht sich mehr denn je eine Schneise zwischen einem auf Filmkunst orientierten Wettbewerb und populären „Specials“: Sie dienen mehr denn je dazu, Prominenz nach Berlin zu holen. Das Wagnis, das Festival mit einem Film aus dem Wettbewerb zu eröffnen, wird zugunsten einer populären romantischen Komödie aufgegeben.
„She Came to Me“, der von der US-Amerikanerin Rebecca Miller inszenierte Auftaktfilm, bringt am heutigen Donnerstagabend Marisa Tomei, Anne Hathaway und Peter Dinklage auf den roten Teppich; Letzterer spielt einen Komponisten mit Schreibblockade auf der Suche nach Inspiration. Unter den 19 Filmen des Wettbewerbs hingegen sind prominente Namen Mangelware, selbst Regiestars wie Margarethe von Trotta („Ingeborg Bachmann – Reise in die Wüste“), Christian Petzold („Roter Himmel“) und Philippe Garrel („Le grand chariot“) die absolute Ausnahme. Frankreichs Altmeister hat mit seinen eigenen Kindern eine Geschichte über das prekäre Dasein eines Puppentheaters inszeniert, worin man wohl auch einen Verweis auf die Situation der Filmkunst erkennen könnte.
Cate Blanchett kehrt zur Deutschland-Premiere des finsteren Thrillers „Tár“ an dessen Berliner Spielort zurück, wo sie eine ihre Umgebung missbrauchende Star-Dirigentin verkörpert. Dass man Todd Fields meisterhaft inszenierte Auseinandersetzung mit der „cancel culture“ trotz immenser öffentlicher Förderung aus Deutschland an das vergangene Venedig-Festival verloren hat, sollte eigentlich zu denken geben.
Dafür feiert Sean Penn hier eine echte Weltpremiere. Kein Geringerer als Wolodymyr Selenskyj schrieb das Drehbuch seines Ukraine-Dokumentarfilms „Superpower“ über die Zeit, bevor der russische Angriffskrieg eskalierte. Während der Dreharbeiten wurde das Team vor einem Jahr von der Invasion überrascht. Selenskyj selbst wird sich schon zur heutigen Eröffnungsgala über das Internet zuschalten.
Ein Coup gelang Festival-Direktor Carlo Chatrian mit der erfolgreichen Einladung an Steven Spielberg. Der Ehrenpreisträger wird seine fiktionalisierte Jugendbiografie „Die Fabelmans“ außer Konkurrenz zeigen, einen seiner schönsten Filme. Welche Glücksgefühle wecken diese Erinnerungen an den Aufbruch einer lebenslangen Kinoliebe. Und welche Melancholie über die ungewisse Zukunft dieses Mediums.
Bereits 1982 stellte Wim Wenders in seinem Essayfilm „Chambre 666“ Steven Spielberg die heute allgegenwärtige Frage: „Ist Kino eine Sprache, die verloren zu gehen droht, eine Kunst, die im Sterben liegt?“ Neben Antonioni, Herzog, Godard und Fassbinder gehörte er zu den Cannes-Teilnehmern, die der Einladung des Deutschen in ein leeres Hotelzimmer folgten, um ihre Antworten einer Filmkamera anzuvertrauen.
Bescheiden warnt der damals 36-jährige Spielberg, dessen 18-Millionen-Dollar-billiges Filmabenteuer „Jäger des verlorenen Schatzes“ vom Vorjahr 390 Millionen einspielen sollte, vor geldgierigen Studiochefs, die nur das Zehnfache ihres Einsatzes sehen wollten. „Sie sagen: Wir interessieren uns nicht für einen Film über Ihr Privatleben, Ihren Großvater, das Erwachsenwerden in einer amerikanischen Schule oder wie man mit 13 Jahren zum ersten Mal masturbiert. Sie wollen den Film, der allen Leuten gefällt, und das ist natürlich unmöglich.“
Wie lange hat es gedauert, bis Spielberg plötzlich „Die Fabelmans“ gedreht hat, jenen Film, den er damals zum Schrecken aller Studiobosse erkor? Den über die eigene Großmutter und den 13-Jährigen, der zum ersten Mal masturbiert? In dieser Berlinale trifft Spielbergs Coming-of-Age-Film auf eine ganze Retrospektive, die diesem Genre gewidmet ist. Wie viele Filmkarrieren begannen mit jugendlichen Initiationsgeschichten? Und wie viele Filmemacher brachten das Kino gerade mit ihren eigenen Erstlingen ein entscheidendes Stück weiter?
Gleich drei Wettbewerbsfilme sind Debüts, was umgekehrt aber auch heißen muss: Sie müssen schon wirklich gut sein, um den Mangel an bedeutenden Regisseurinnen und Regisseuren auszugleichen. Ebenso birgt die starke Gewichtung mit gleich fünf deutschen Beiträgen im Wettbewerb ein hohes Risiko. Weder Cannes noch Venedig hatten deutsche Filme im Programm. So wünschenswert es wäre, ihnen im Nachhinein zu beweisen, dass sie eine blühende Filmkultur übersehen haben – dafür sollten diese Filme auch wirklich gut sein. Christian Petzold, Emily Atef, Christoph Hochhäusler, Angela Schanelec und Altmeisterin Margarethe von Trotta wecken jeweils auf ihre Art hohe Erwartungen.
Jedes Filmfestival, das etwas wert ist, macht uns die wunderbare Ambivalenz dieses Mediums bewusst, das alles sein kann – Kunst und Kommerz, Poesie und politische Aufklärung. Die Berlinale hat die wunderbare Chance, diesen Bogen denkbar weit zu spannen. Hauptsache, die Grenzen zwischen diesen Polen bleiben offen.