Der Eindruck des Falschen bei Haneke

Düsteres in Cannes: Michael Haneke entgleist spektakulär mit "Happy End", der Grieche Yorgos Lanthimos hält in seinem Horrorfilm "The Killing of a Sacred Deer" immerhin die Spannung aufrecht.
Es sind Pseudo-Anglizismen wie Handy, Oldtimer oder Homepage, die nicht nur uns Deutsche im Ausland schnell verraten. „Happy end“ sagt man zum Beispiel auch in Frankreich, wenn man ein „happy ending“ meint. In kapitalen Lettern stehen beide Worte auf dem internationalen Filmplakat von Michael Hanekes neuem Film, der auch auf Englisch diesen Titel trägt. Verräterisch hat der Regisseur sie auf ein Motiv der Schlusszene gelegt, eine abschüssige Straße, die in blaue Meeresfluten führt. Dann dürfen wir – ohne den Ausgang zu verraten – wohl auch ergänzen, dass sich Jean-Louis Trintignant in der Rolle des Witwers aus Hanekes „Liebe“ im Rollstuhl auf diese abschüssige Route macht.
Der Eindruck des Falschen, der in den Worten „Happy End“ mitschwingt, man muss es deutlich sagen, durchzieht Handkes Film in erschreckender Dichte. Im selben Saal, in dem vor Jahren seine Meisterwerke „Caché“, „Das weiße Band“ und „Liebe“ ihre ersten, stürmisch gefeierten Pressevorführungen erlebt hatten, war nun ein vielstimmiges Buh zu hören. Was ist hier bloß geschehen? Hat der Österreicher nur einfach frech mit den Konventionen des guten Filmgeschmacks gebrochen, indem er die Geschichte seines Sterbehilfedramas „Liebe“ zu einer Groteske weiterspinnt? Derart angereichert durch Motive und Stile seiner früheren Filme, dass es wie ein zusammengemixtes Medley seiner Markenzeichen klingt? Oder ist er seinen Zeitgenossen ganz im Gegenteil sogar ein Stück voraus?
Georges, der greise Industrielle, der im letzten Film aus Liebe seine schwerstkranke Frau erstickte, wünscht sich drei Jahre später selbst den Tod. Eine potentielle Verbündete bietet sich dem Zuschauer schon in den ersten Szenen an: Es sind Handyaufnahmen, in denen ein Kind die Vergiftung seines Meerschweinchens durch Tabletten der depressiven Mutter dokumentiert. Bald werden wir sie als seine Enkelin kennenlernen, aber eigentlich ist das böse Mädchen schon eine Bekannte aus Hanekes „Weißem Band“. Wie er uns auch schon ausführlich vor dem Videomedium gewarnt hat, dessen sich die etwa 13-jährige da so souverän bemächtigt: In seinen Filmen „Bennys Video“ und „Funny Games“. Fast hatten wir nach einer Serie von Haneke-Meisterwerken diese kontroversen früheren Arbeiten vergessen. Nun ist alles wieder da – der Kulturpessimismus und die plakative Deutlichkeit.
In frühreifer Neugier liest das Mädchen die SM-Phantasien mit, die ihr Vater mit einer Cellistin teilt, die spät im Film ihre Meisterschaft beim dekadent-pompösen Geburtstagsessen für den Vater ihres Geliebten demonstriert. Wie in „Funny Games“ muss die Erhabenheit klassischer Musik symbolhaft mit profanen Begleitumständen kontrastieren.
Isabelle Huppert, die in „Liebe“ als Tochter eine feine Nebenrolle spielte, hat diesmal als kühle Managerin des väterlichen Unternehmens die Fäden in der Hand. Die Hauptrolle aber spielt die Lieblosigkeit selbst. Allgegenwärtig ist sie in dieser Geschichte, auch wenn Haneke sie eine Zeitlang in einer Auslassungs-Dramaturgie à la „Caché“ versteckt, die jedoch nurmehr wie ein weiteres Selbstzitat anmutet. Aus „Caché“ hat sich auch die Bourgeoisie-Kritik in „Happy End“ gerettet. Doch ebenso wie Haneke hier inhaltlich titelgebende Liebe gegen Lieblosigkeit austauscht, ersetzt er formal „versteckt“ mit „überdeutlich“: Wenn beim großbürgerlichen Festbankett von einem rebellischen Familienmitglied eine Gruppe afrikanischer Geflüchteter zu Provokationszwecken vorgeführt werden, wirkt das fast schon selbst missbräuchlich. Zu welch merkwürdigem Festmahl hat Haneke nur hier geladen – und dabei alles, was uns an seinem Kino teuer war, seziert und aufgetischt: Im besten Falle ironisch bis zur Selbstzerfleischung.
Auch beim nächsten Wettbewerbsfilm wollten die Buhrufer des Vorabends dann nicht pausieren, dabei ist der erste Hollywoodfilm des Griechen Yorgos Lanthimos zwar kein Meisterwerk aber auch wirklich kein Debakel. In „The Killing of a Sacred Deer“ spielt Colin Farrell einen Chirurgen, der aus Schuldgefühl eine Freundschaft mit dem etwa 12-jährigen Sohn eines verstorbenen Patienten unterhält. Hatte Lanthimos zuletzt mit „The Lobster“ in die jenseitige Parallelwelt eines Sanatoriums geführt, fehlt auch diesmal die irreale Ebene nicht: Als es dem Jungen nicht gelingt, den freundlichen Arzt mit seiner Mutter zu verkuppeln, erpresst er ihn mit einem Fluch: Sollte er sich nicht entschließen, wahlweise eines seiner beiden Kinder oder die von Nicole Kidman gespielte Ehefrau zu töten, würden alle eines Todes sterben, der sich schleichend ankündigt: Die Kinder bekommen – medizinisch unerklärlich – schon einmal gelähmte Beine.
Es ist eine Spezialität der Coen-Brüder, die Lanthimos hier zubereiten möchte: einen rabenschwarzen Thriller mit biblischen Motiven. Doch trotz seines buschigen Vollbarts ist Farrells Arzt nicht Abraham und auf einen Gott, der das Sohnopfer im letzten Moment dann doch nicht haben möchte, darf hier niemand hoffen. Eher schon auf ein Wiedersehen mit Damien, dem schwarzhaarigen Rotzbengel aus dem Gruselklassiker „Das Omen“.
Was die Bosheit ihrer Filmkinder betrifft, können sich Yorgos Lanthimos und Michael Haneke die Hände reichen.