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„Drive My Car“ im Kino: Wie Schnee im Feuerofen

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Von: Daniel Kothenschulte

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„Drive My Car“ nach der Erzählung von Haruki Murakami: Der Theatermacher und die Chauffeurin. Foto: Rapid Eye Movies
„Drive My Car“ nach der Erzählung von Haruki Murakami: Der Theatermacher und die Chauffeurin. © Rapid Eye Movies

Mit seinem meisterhaften Erinnerungs-Drama „Drive My Car“ hat der Japaner Ryusuke Hamaguchi eine Murakami-Kurzgeschichte neu erfunden.

Wer in diesen Tagen über Filme schreibt, der schreibt immer öfter auch über das Kino. Die plötzliche Aufmerksamkeit für das, was Generationen eine Selbstverständlichkeit gewesen ist, kommt hoffentlich nicht zu spät. Viele Filmtheater präsentieren sich nach den Corona-Schließungen liebevoll renoviert, und nicht nur Spider-Man freut sich gerade sehr über einen Besuch.

Hier ist ein Film, der unbedingt in diese dunklen Räume gehört, aber nicht, weil es ihn wie einen Blockbuster nach äußerer Größe drängte. Trotz seiner stattlichen Laufzeit von drei Stunden ist „Drive My Car“, der diesjährige Cannes-Beitrag des Japaners Ryusuke Hamaguchi, auch kein Epos. Er gehört zu jenen Filmen, die es in den Kinosaal drängt, weil sie selbst ein besonderes Gefühl für Räume und Orte besitzen. Und zugleich auch so etwas wie einen Denkraum für ihre ganze Wirkung brauchen.

Zentraler Spielort ist Hiroshima, was zumindest dem europäischen Filmfan unwillkürlich einen Klassiker des Autorenfilms in Erinnerung ruft, Alain Resnais’„Hiroshima, mon amour“. Tatsächlich haben beide Filme weit mehr gemeinsam als ihren semidokumentarisch erfassten, symbolhaften Spielort. In Dialogen von literarischer Qualität wird auch bei Hamaguchi das Element der gesprochenen Erzählung zu einer absolut filmischen Attraktion.

Zwei Jahre nach dem Tod seiner Frau, der Drehbuchautorin Oto, sucht Yusuke (Hidetoshi Nishijima), ein Theatermacher und Schauspieler, den Weg zurück ins Leben und in seinen Beruf. Bei einem Festival in Hiroshima soll er „Onkel Wanja“ inszenieren. Bei seiner Ankunft drängt ihm die Leitung die Dienste einer Chauffeurin auf. Widerstrebend überlässt er der jungen Misaki (Toko Miura) das Steuer seines gepflegten 80er-Jahre-Oldtimers.

Dieser bestens erhaltene, rote Saab 900 Turbo ist in der Tat alle Schutzgefühle wert. Hier wird er zum zentralen Spielort eines urbanen und doch ortlosen Roadmovies. Schon bei der Hinfahrt rollt das Schwedenauto etwas entrückt durch die japanischen Landschaften, während im Innern von Kassette die Stimme der Toten erklingt, eine Aufnahme des Tschechow-Stücks. Später wird Misaki ihrem Fahrgast erklären, dass er in Hiroshima wohl am richtigen Ort ist: „Die Menschen hier leben mit ihren Toten“. Das gilt auch für sie: Bei einem Erdrutsch hat sie ihre gewalttätige Mutter verloren und lebt mit dem Selbstvorwurf, sie nicht gerettet zu haben.

Wo Kunst zum Leben erwacht

Yusuke nutzt die Aufnahme Otos, um einen Text zu lernen, den er auf der Bühne gar nicht sprechen wird. Gespielt wird das Stück in verschiedenen asiatischen Sprachen, darunter koreanischer Zeichensprache. Die Proben-Szenen sind von einer besonderen Intimität und erinnern daran, wie der französische Filmemacher Jacques Rivette Bühnensituationen nutzte: Als semidokumentarische Momente, in denen Kunst zum Leben erwacht.

Der Gegenpol des Theaters sind die Erzählungen: Yusukes Frau hatte die Angewohnheit, nach dem Sex Geschichten zu erfinden, die sich dieser dann für wie merken sollte. Doch das Erbe, das er in seinem Gedächtnis trägt, ist wohl nicht komplett. Oto hatte viele Liebhaber und einem von ihnen hat Yusuke, obwohl eigentlich viel zu jung, nun die Rolle des Wanja gegeben.

Hamagushi hat die Elemente seines schwerelos erzählten Films wie lose Papierbögen übereinander geschichtet. Dazu gehört auch die problematische Liebesgeschichte, die den Film wie eine falsche Fährte eröffnet und schließlich als Erzählung zurückkehrt. Die literarische Vorlage des Films, Haruki Murakamis gleichnamige Kurzgeschichte, ist gerade einmal der Sockel dieser filigranen Konstruktion. Es ist schwer zu sagen, wie es dem Filmemacher in seinem sachten, fast hypnotischen Regiestil gelingt, dabei die Filmzeit buchstäblich aufzulösen. Aber am Ende scheint es, als habe er wenigstens eine der drei Stunden durch irgendeinen Bühnentrick zum Verschwinden gebracht.

Schwerelos heißt freilich nicht flüchtig; besonders die Ausflüge mit Misaki wirken lange nach. Als Yusuke sie bittet, sie an irgendeinen Ort in Hiroshima zu fahren, wo es ruhig ist, fährt sie ihn zu einer Müllverbrennungsanlage. Durch eine Glasscheibe beobachten sie die fast zärtliche Arbeit einer riesigen Zerkleinerungs-Kralle: „Sieht das nicht aus wie Schnee?“, fragt sie ihren Gast. Der Architekt des Industriekomplexes, so erfährt man, ließ Platz für einen Fußgängertunnel, um die historische Achse der Stadt zu respektieren. Überhaupt gibt es eine Menge Tunnel in diesem Film, der rote Saab scheint sie auf seinen metaphysischen Touren bevorzugt anzusteuern.

Beim letzten Festival von Cannes gehörte „Drive My Car“ zu den Favoriten; ausgezeichnet wurde er für das beste Drehbuch; 23 weitere Preise kamen inzwischen dazu. „Eine schicksalshafte Begegnung“ nannte der Filmemacher den Augenblick, als er auf Murakamis Erzählung stieß. Und genau das könnte sich auch aus diesem Kinobesuch ergeben.

Drive My Car. Japan 2021. Regie: Ryusuke Hamaguchi. 179 Min.

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