Drama „Die Aussprache“ im Kino: 48 Stunden Ewigkeit

Sarah Polleys Oscar-nominiertes Drama „Die Aussprache“ über einen Missbrauchsfall in einer Mennonitengemeinde.
Im Jahr 2007 führte der Spielfilm „Stilles Licht“ des Mexikaners Carlos Reygadas in die scheinbar aus der Zeit gefallene Lebenswirklichkeit einer Mennonitengemeinde im Norden seines Heimatlandes. In diesem ersten plautdietschsprachigen Film spielte die kanadische Schriftstellerin Miriam Toews als Laiendarstellerin eine der Hauptrollen; sie war durch den ebenfalls unter Mennoniten spielenden Coming-of-Age-Roman „Ein komplizierter Akt der Liebe“ bekannt geworden. Das Milieu, in dem sie selbst aufgewachsen war, inspirierte 2018 auch ihr weit düstereres Buch, „Women Talking“ („Die Aussprache“). Dessen Verfilmung durch die Kanadierin Sarah Polley zählt nun zu den Bewerbern um den Oscar als Bester Film.
Diesmal sind die Dialoge englisch, und auch die Bildsprache unterscheidet sich radikal von dem damals in Cannes prämierten Film. Hatte Reygadas mit seiner Geschichte über Gottesfurcht, Unschuldsverlust und Wunderglaube auch die Wunder warmfarbiger analoger Naturfotografie beschworen, stehen die Regler einer nunmehr digitalen Bildbearbeitung beinahe auf Schwarz-Weiß. Die Farben sind förmlich geflohen aus der zwar immer noch urig-archaischen, aber gänzlich entzauberten vorindustriellen Bauernwelt.
Eine Gruppe von Frauen versammelt sich auf einem Heuboden, um zu beraten; die Dorfbewohnerinnen haben sie per Wahl delegiert. Die grauenhafte Vorgeschichte von Vergewaltigungen durch ein pseudochristlich verfasstes Patriarchat wird nicht dargestellt. Dass man auch im Dialog kaum etwas über die Abläufe erfährt, verstört auf eigene Art: Warum wirken viele der Opfer so unbeschwert, wenn es doch alle getroffen haben muss, während andererseits die von Claire Foy gespielte Salome für gewaltsame Rache plädiert? Ein Zwischentitel erklärt vor Beginn der Beratungen, hier beginne der erfundene Teil der Geschichte. Das Wissen um den historisch-wahren Teil, der bereits den Roman inspirierte, wird weitgehend vorausgesetzt.
Im Juni 2009 berichtete unter anderem die Frankfurter Rundschau über einen Fall von massenhafter Vergewaltigung unter Mennoniten in Bolivien. Acht Männer wurden damals beschuldigt, in einer strenggläubigen Gemeinde hundert Frauen und Mädchen, das jüngste elf Jahre alt, in betäubtem Zustand vergewaltigt zu haben.
Während im historischen Fall eine Gruppe von Männern die Taten beging, auch Ehemänner und Verwandte der Opfer zur Verschleierung betäubte, scheinen hier die Verbrechen von der gesamten männlichen Bewohnerschaft getragen. Als einige von ihnen verhaftet werden, eilen die anderen zum Gericht, um die Kaution zu bezahlen. In dieser finsteren Dystopie fügen sich die Verbrechen in ein unter dem Deckmantel der Frömmigkeit verborgenes System weiblicher Entrechtung.
Die eigentliche Filmhandlung setzt ein, als die Rückkehr der Männer bevorsteht. Das Kirchenoberhaupt gibt den Frauen zwei Optionen: Wollten sie bleiben, müssten sie den Tätern verzeihen; entschlössen sie sich zu gehen, dann bliebe ihnen jede Rückkehr verwehrt – wie auch dereinst das Himmelreich. Populärer scheint dagegen eine dritte Möglichkeit: Auf die Männer zu warten, mit ihnen zu kämpfen.
„Women Talking“, der Titel kommt nicht von ungefähr. Fast die ganze Filmzeit ist dem Debattieren gewidmet. Frauen, die zum ersten Mal über sich selbst entscheiden, ja überhaupt erst frei reden dürfen, müssen die Grundfesten ihres Lebens infrage stellen. Sie finden dabei einen Ausdruck für die essenziellen Parameter von Politik und Theologie und setzen beides neu zueinander in Verbindung. Wie es vielen von ihnen gelingt, eine ungekannte Autonomie über ihren Glauben zu gewinnen, wirkt niemals aufgesetzt.
Toews hatte die Romanvorlage aus der Perspektive eines jungen Lehrers erzählt, Polley destilliert aus dem Text ein faszinierend feingliedriges Dialogbuch, das gewiss noch auf vielen Theaterbühnen nachgespielt werden wird.
Die Aussparung der Gewalt überzeugt ebenso wie die skizzenhafte Einführung: „Die Geschichte beginnt, bevor du geboren bist“, adressiert eine junge Erzählerin das Geschehen an ein Kind, um zu ergänzen: „Wir hatten 24 Stunden Zeit, um uns die Welt vorzustellen, in die du hineingeboren werden würdest.“
Noch lange bleibt im Ungewissen, in welcher Zeit die Handlung angesiedelt ist. Erst viel später wird ein Lautsprecherwagen, der für eine Volksbefragung wirbt, ein handfestes Datum in den Film einschreiben, die Jahreszahl 2010. Aber auch das ist nicht ohne historische Ironie: Das Auto ist ein altes Modell, und der Song, der aus seiner Flüstertüte dudelt, ein alter Klassiker von den Monkees, „Daydream Believer“. Schon Peter Weir nutzte den Reiz anachronistischer Irritationen in seinem Thriller aus der Welt der Amischen, „Der einzige Zeuge“.
Anderes ist weit weniger überraschend: Der Ausgang der Debatte scheint sehr früh vorhersehbar. Und trotz der Konzentriertheit eines Kammerspiels gewinnen die interessanteren Figuren zu wenig Profil innerhalb des Ensembles.
Am eindrucksvollsten ist Rooney Mara in der Rolle der ätherischen Ona als Gegenpol zu Claire Foys dominanterer Salome: Obwohl schwanger von ihrem Vergewaltiger wendet sie sich gegen ihre gewaltbereiten Leidensgenossinnen. Nicht mehr als eine Randfigur ist leider die von Frances McDormand, die den Film auch produzierte, eindringlich verkörperte Scarface Janz: Gottesfurcht und Trauma lassen sie auf verlorenem Posten für Vergebung gegenüber den Männern eintreten.
Wortbasierte Filme müssen nicht theatralisch wirken, und Sarah Polley ist das auch nicht vorzuwerfen. Doch obwohl es um die Debatte geht, fehlt es doch am Ende an der nötigen Kontroverse. Die dramatische Zuspitzung bleibt aus, und man hätte einen wesentlich weiteren Bogen spannen können, wenn man auch die religiös-konservativen Positionen stärker gewichtet hätte – vielleicht sogar im Hinblick auf diskriminierende islamische Gesellschaften. Religiöser Fanatismus ist nun einmal in vielen Kulturen ein gefährlicher Nährboden für Diktaturen.
Luc Montpelliers Kamera löst die Innenaufnahmen bemerkenswert dynamisch auf, wobei der Heuboden genug Ausblicke in Landschaft und Lichtstimmungen bieten könnte. Doch dagegen stand offenbar das Konzept einer Absage an alles Lustvolle in der Ästhetik, wie es der Vorgängerfilm „Stilles Licht“ so schwelgerisch exerziert hat. Fotograf Larry Towell diente mit seinen dokumentarischen Schwarz-Weiß-Aufnahmen mennonitischer Landarbeiter in New Mexiko als Referenz. Doch anstatt sich wiederum konsequent für Schwarz-Weiß zu entscheiden, drehte man die Farben lediglich auf ein Minimum herunter. Dieses Stilmittel, das meist aus kommerziellen Gründen präferiert wird (Farbfilme haben meist mehr Publikum), erreicht fast immer das Gegenteil der gewünschten Reduktion. Was bleibt, ist noch immer eine faszinierende Rarität – ein erstklassiges Stück Debattenkino, erstklassig gespielt.
Die Aussprache. Kanada/USA 2022. Regie: Sarah Polley. 104 Min.