Doku über Boris Becker: Triumph und Desaster

Alex Gibneys psychologischer Sportfilm „Boom Boom – The World vs. Boris Becker“
Der Unterschied zwischen Fernsehen und Kino ist vielleicht dieser: Niemals wird es dem Sportfernsehen gelingen, Menschen, die mit Sport nichts anfangen können, an ihren Sesseln kleben zu lassen. Sportfilme hingegen kann man auch ohne das leiseste Interesse an Leibesübungen genießen. Man muss nicht einmal die Grundregeln des Boxsports kennen, um „Rocky“ zu mögen und „Wie ein wilder Stier“ zu bewundern.
Das wenige, was ich von Baseball weiß, weiß ich aus Filmen wie „Die Bären sind los“, „Eine Liga für sich“ oder „Money Ball“. Gute Tennis-Filme wie „Battle of the Sexes“ und „King Richard“ haben es besonders leicht, sich mit dem Theatralen, dem Nervenkrieg und dem Glamour, Attributen, die gerade mit dieser Sportart assoziiert sind, kurzzuschließen. Wo die „Stunde des Siegers“ in gleicher Weise auch die des Verlierers ist, des Underdog. Was also liegt näher als ein großer Zweiteiler über Boris Becker?
Alex Gibney, seit vielen Jahren der erfolgreichste Dokumentarfilmer der USA, ist nicht unbedingt ein Meister der stillen Beobachtung. Seine Wirklichkeits-Erzählungen folgen Hollywooddramaturgien und setzen auf pointierte Details und spektakuläre Bilder. Einen Oscar gewann er für „Taxi to the Dark Side“, eine Folterchronik über den US-amerikanischen Afghanistan-Einsatz, bei dem auch geheime Luftbilder geleakt wurden.
„Boom! Boom! The World vs. Boris Becker“ speist sich dagegen weitgehend aus öffentlichen Bildern, auch wenn sie manchmal wie Kriegsschauplätze wirken. Wann immer ein neuer Rivale ins Feld kommt, erklingt eine Ennio-Morricone-hafte Westernmusik. Gibney hat mit allen wichtigen ehemaligen Finalgegnern Beckers Tiefen-Interviews geführt, ihn selbst hat er noch zwei Tage vor seiner Verurteilung zu einer Gefängnisstrafe gesprochen. Gemeinsam mit den Erinnerungen seines ehemaligen Managers Jon Tiriac ergänzen sie sich zu einer bislang kaum gekannten Form der Sport-psychologischen Analyse.
Niemand habe sich auf dem Tennisplatz todesmutiger verhalten, sind sie sich einig, niemand sei so schutzlos ins etwaige Unglück gelaufen. Auch Becker selbst erweist sich umgekehrt als glänzender Analytiker seiner Gegner, während er sich selbst ein Rätsel bleibt. Tatsächlich erklärt sich aus der Analyse seiner größten Spiele offenbar jener radikal-spielerische Charakterzug, der ihn in späteren Jahren auch im Geschäftsleben alle Vorsicht vergessen ließ.
Beide sind ja Schwindler
Der gepflegte Rahmen von Wimbledon, das Becker gern als sein Wohnzimmer bezeichnet, lässt sein scheinbar zwangloses Verhalten wie durch ein Vergrößerungsglas hervortreten. Eingemeißelt ins Tor, durch das alle Recken treten, findet Alex Gibney ein Rudyard-Kipling-Zitat, das nun mehr als einmal bemüht wird, Beckers Lebens-Dilemma ins Opernhafte zu überhöhen: „If you can meet with Triumph and Desaster / and treat those two imposters just the same“ – Wenn du Triumph und Unglück aushältst / Und beide Schwindler gleich behandeln kannst“.
Es war der Triumph der Unschuld des 17-Jährigen, der die Öffentlichkeit über viele Jahre elektrisierte. In Großbritannien gilt er – wie er mehr als einmal erwähnt – als beliebtester Deutscher („und die Liste ist kurz“). Selbst beim Urteil wegen Steuerhinterziehung wirkte der inzwischen 54-Jährige eher wie ein Kandidat für die Jugendstrafkammer.
Nachdem auf der Berlinale nur der erste Teil zu sehen war, zeigt der Streaming-Kanal Apple-Plus die ganzen fast dreieinhalb Stunden. Kapitel 1 ist eine Erfolgsgeschichte, wie sie der Sport nur selten erlebt, Kapitel 2 die Chronik eines nicht minder spektakulären Desasters.
Gibneys Team hat besonders in deutschen Fernseharchiven reiche Beute gemacht und das Material mit neuesten digitalen Möglichkeiten herausgeputzt. Was lässt sich, insbesondere mit späterem Wissen, nicht alles aus den sauberen Kamerabildern von Grand-Slam-Tournieren und ihrer Backstage-Momente herauslesen? Wie genau lassen sich Mimik und Gestik der Kontrahenten entschlüsseln? Wie empfindlich zeigen sich bei diesem Sport selbst die größten Profis gegenüber kleinsten Irritationen?
Noch heute prahlt Becker mit den flirtenden Blicken, die er 1995 beim Wimbledon-Finale in Richtung des Hollywoodstars Brooke Shields geworfen habe, der Partnerin seines Gegners Andre Agassi. Der wiederum befreit Becker nach Jahrzehnten aus der Ungewissheit, wie er bei späteren Begegnungen dessen Aufschlagrichtung erahnt haben könne: Die Zunge des Leimeners habe sich zuvor entsprechend verrenkt. Die Kamera bringt es auf den Punkt.
Nein, nicht die Besenkammer
Vermutlich wird, wer mit Beckers Leben vertraut ist, hier wenig Neues finden. Ein wichtiges, zuvor zu wenig beachtetes Kapitel ist der Rassismus, dem seine spätere Frau Barbara Feltus und Becker gleich nach ihrer Verbindung besonders im deutschen Boulevard ausgesetzt waren. Angenehm vernachlässigt werden die Umstände einer seinerzeit medial viel diskutierten Kindszeugung im Treppenbereich des Londoner Nobelrestaurants Nobu (nein, es war nicht die Besenkammer).
Leider verliert der Film in der zweiten Hälfte, wo man Gibneys in anderen Filmen erprobten kriminologischen Eifer erwartet, an Dichte. Zwar werden Beckers Äußerungen ab und an respektvoll korrigiert, aber ist es wirklich plausibel, den fatalen Ausgang des letzten Prozesses der gekränkten Eifersucht eines geschassten Managers zuzuschreiben? Gern hätte man mehr gewusst über Beckers fatale Investitionen.
Ausgerechnet da, wo Gibney seine größten Meriten erwarb, im Investigativen, enttäuscht „Boom Boom“. Doch großes Kino ist diese Streaming-Premiere deshalb nicht weniger: Fünfeinhalb Jahrzehnte Becker haben solche Spuren in der Mediengeschichte hinterlassen, dass man ein Gesellschaftsporträt allein daraus montieren kann, und wer kann sich nicht darin wiederfinden? Hier ist Alex Gibney ganz in seinem Element.
Boom Boom – The World vs. Boris Becker. Regie: Alex Gibney. Dokumentarfilm, 2 Teile. 97 & 113 Min., bei Apple TV.