1. Startseite
  2. Kultur
  3. TV & Kino

„Die Überlebenden von Mariupol“ heute auf Arte: Die Albträume bleiben

Erstellt:

Von: Harald Keller

Kommentare

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat aus der blühenden Stadt Mariupol eine von Bomben gezeichnete Ruinenstadt gemacht.
Der Ukraine-Krieg hat aus der blühenden Stadt Mariupol eine von Bomben gezeichnete Ruinenstadt gemacht. © SWR/Evginy Sosnovsky

Unter Einbeziehung von Amateuraufnahmen dokumentiert der britische Filmemacher Robin Barnwell die systematische Vernichtung der ukrainischen Metropole Mariupol durch russische Truppen.

Frankfurt - Olga sagt, sie sei ein Kind der Sowjetunion. „Alle hatten Verwandte in der Sowjetunion. Man besuchte sich.“ Gehört Olga zum Personenkreis, der von russischen Truppen aus dem ukrainischen Joch befreit werden müsste? Nicht die Spur. „Nach 2014 änderte sich unsere Einstellung zu Russland“, so Olga weiter.

In diesem Jahr hatte Russland die Halbinsel Krim, also ukrainisches Territorium, besetzt. Wladimir Putin hielt dazu eine Ansprache im russischen Fernsehen: „Die Ukraine hat im Grunde nie über echte Eigenstaatlichkeit verfügt.“

Das ukrainische Volk sah das anders. In der Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer mit ihren 430.000 Einwohner:innen kam es zu spontanen Demonstrationen mit Transparenten wie „Russland ist ein Aggressor“. Leider nur zu wahr, und Mariupol wurde Opfer dieser Aggression.

„Die Überlebenden von Mariupol“: Für Jugendliche nicht geeignet

Am 24. Februar 2022 heulten die Luftschutzsirenen in Mariupol. Der Beginn eines unbarmherzigen Bombenkrieges. Der preisgekrönte britische Filmemacher, Kameramann und Produzent Robin Barnwell hat die ersten 82 Tage der russischen Belagerung und Invasion Mariupols dokumentiert. Im Original lautet der Titel des Films, eine Koproduktion von SWR und BBC, vielsagend „The People’s Story“.

Barnwell nutzte neben eigenem auch Material, das ihm von den Betroffenen zur Verfügung gestellt wurde, Amateuraufnahmen, meist mit Handys gefilmt. In einer Phase, in der Mariupol für Berichterstatter verschlossen war. Umso unmittelbarer wird das Grauen des Bombenkrieges vor Augen geführt. Zerstörte Häuser, Leichen auf den Straßen, weinende Kinder in den Bunkern. Im Vorspann des Films wird gewarnt: „Dieses Programm ist nicht geeignet für Kinder, Jugendliche oder empfindsame Zuschauer.“

Der Film dokumentiert, wie etwa die TV-Moderatorin Alevtina nur knapp einem Bombeneinschlag entkam und mit ihrer Familie zu Fuß aus Mariupol fliehen konnte.
Der Film dokumentiert, wie etwa die TV-Moderatorin Alevtina nur knapp einem Bombeneinschlag entkam und mit ihrer Familie zu Fuß aus Mariupol fliehen konnte. © SWR/Robin Barnwell

Zeitzeuginnen, denen die Flucht aus Mariupol gelungen ist, berichten über ihre Erlebnisse. Die Anästhesistin Oksana blieb bis zur letzten Minute, als russische Soldaten bereits in den Straßen patrouillierten. Sie erfuhr unerträglichen Horror. Verletzte und sterbende Kinder, schwangere Mütter, die ihre ungeborenen Kinder verloren, weil die Entbindungsklinik zerstört worden war.

Sergey war Schauspieler an jenem Theater, das zum Zufluchtsort für Evakuierungswillige und ausgebombte Mitbürger:innen wurde. Vor allem für Frauen und Kinder. Vor und hinter dem Theater wurde in großen Lettern und aus der Luft deutlich lesbar „Kinder“ aufs Pflaster geschrieben. Das Gebäude wurden trotzdem Ziel russischer Bomber, mit vielen Toten.

Viktoria und ihre Kinder haben diesen Angriff überlebt. Ihr Sohn erinnert sich, dass sie bei der Flucht über Leichen rannten: „Das kann ich nicht mehr vergessen.“

„Die Überlebenden von Mariupol“
RegieRobin Barnwell
LandGroßbritannien
Jahr2022
HerkunftSWR

„Die Überlebenden von Mariupol“: Die Qualen gehen weiter

Nachrichtensendungen vermitteln das Leid der ukrainischen Bevölkerung in abstrakten Zahlen. Hier bekommen sie Gesichter. Manche sind gezeichnet vom Krieg. Sie berichten, wie sie den Alltag überstanden, dokumentierten mit ihren Handys die Leichen auf den Straßen, die nicht begraben werden konnten, weil der Boden gefroren war. Die improvisierten Kochstellen vor den Häusern, nachdem Gas und Strom ausgefallen waren. Die Außentoilette im verschneiten Hof mit einem Autoreifen als WC-Sitz. Klirrende Kälte, kein Sichtschutz.

Auch in den Bunkern gibt es keine Intimsphäre. Das Zeitgefühl geht verloren, das Essen ist knapp, die Kinder müssen leise sein und fürchten sich. Der kleine Nikita fragt seine Mutter Oksana: „Was haben wir getan, dass Russland uns angreift?“

Und ständig Fliegeralarm, heulende Projektile, das Krachen einstürzender Gebäude, Einschläge. Viktorias Sohn bekommt sie nicht mehr aus dem Kopf: „Wenn ich meine Augen zumache, sehe ich immer die Explosionen.“ Heute ist Mariupol weitgehend zerstört. Die Mehrzahl der Einwohner:innen ist geflohen, einige nach Deutschland.

Noch ein Aspekt kommt zur Sprache. Die junge Lehrerin Hanna empfindet Schuldgefühle, weil sie die Hölle überlebt hat. Was deutlich macht: Wenn die nötigsten Bedürfnisse gestillt sind, wenn endlich wieder Frieden eingekehrt ist, wird immer noch Hilfe nötig sein. (Harald Keller)

„Die Überlebenden von Mariupol“,

Dienstag, 21. Februar 2023, 20.15 Uhr, Arte, und abrufbar in der Arte-Mediathek (verfügbar bis 21. Mai 2023)

Auch interessant

Kommentare