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„Die Schatzinsel“: Der meisterhafte ZDF-Vierteiler auf 3Sat

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Von: Marc Hairapetian

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„Die Schatzinsel, Die Entscheidung“ - Die Suche nach dem Schatz ist John Silver‘s (Ivor Dean) große Stunde, auf die er jahrelang gewartet hat. Jim Hawkins (Michael Ande, l.) bewundert den ungeheuren Willen und die Bärenkräfte des Einbeinigen, mit denen dieser die gewaltigen Strapazen erträgt.
Die Suche nach dem Schatz ist John Silver‘s (Ivor Dean) große Stunde, auf die er jahrelang gewartet hat. Jim Hawkins (Michael Ande, l.) bewundert den ungeheuren Willen und die Bärenkräfte des Einbeinigen, mit denen dieser die gewaltigen Strapazen erträgt. © ZDF/Roger Fellows

3sat zeigt am 4. Januar 2022 ungekürzt den legendären ZDF-Vierteiler „Die Schatzinsel“.

Frankfurt - Derrick auf der Schatzinsel!? Klingt wie ein Paradoxon, war aber 1966 zum Greifen nah. Horst Tappert, der den mitunter philosophischen Münchner Oberinspektor von 1974 bis 1998 in 281 Folgen der in über 100 Ländern verkauften ZDF-Serie gab, sollte ursprünglich den Part des charmanten, aber verschlagenen Long John Silver in dem vierteiligen deutsch-französischen Straßenfeger „Die Schatzinsel“ (französischer Titel: „L’île au trésor“) verkörpern.

Den einbeinigen Schiffskoch, der sich mit dem jungen Jim Hawkins auf der Hispaniola nur zum Schein anfreundet, weil dieser im Besitz der Schatzkarte ist, hätte er auch ohne Toupet gespielt. Er war neben Hannes Messemer in der Endauswahl. Den Zuschlag als lachender Dritter erhielt aber der seinerzeit in Deutschland als Pastillen lutschender Chef-Inspektor Claude Eustace Teal in der britischen Fernsehreihe „Simon Templar“ (Titelrolle: Roger Moore) populäre Shakespeare-Mime Ivor Dean. Der markante Kahlkopf erwies sich als echter Glücksgriff. Selbst der große Orson Welles reichte sechs Jahre später in der Artur-Brauner-Kinoproduktion nicht an seine Interpretation des redegewandten Smut, der einst unter der Flagge des Piraten Captain Flint segelte, heran. 

Dean (deutsche Synchronstimme: Alf Marholm) legt Silver als Menschenfänger an, der aber nicht davor zurückscheut, unliebsame Mitwisser, die sich nicht an seiner Verschwörung beteiligen wollen, das Rückgrat mit seiner Krücke zu brechen. Es fällt ihm leicht, den romantisch-naiven Jim Hawkins (mit staunendem Antlitz von Michael Ande interpretiert) um den Finger zu wickeln. Sobald die sagenumwobene exotische Insel erreicht ist, möchte er den Sohn eines Gastwirts, der die Schatzkarte im Nachlass des Seeräubers Bill Bones gefunden hat, allerdings auch über die Klinge springen lassen. Ebenso dessen Gefährten, den besonnenen Dr. David Livesey (Georges Riquier), den abenteuerlustigen Friedensrichter Squire John Trelawney (Jacques Dacqmine) und den mürrischen Kapitän Alexander Smollet (Jacques Monod). Im Laufe von 340 auch für heutige Sehgewohnheiten an Spannung kaum zu überbietende Minuten müssen sich sieben loyale Personen gegen 19 ehemalige Crew-Mitglieder Flints erwehren.

„Die Schatzinsel“: ZDF-Vierteiler hält sich akribisch an Vorlage von Stevenson

Regisseur Wolfgang Liebeneiner, der zwei Jahre später auch „Tom Sawyers und Huckleberry Finns Abenteuer“ für das kongeniale Produzenten-Gespann Walter Ulbrich (DEROPA Film- und Fernseh GmbH) und Henri Deutschmeister (Franco London Film) werkgetreu in Szene setzte, drehte auf 35-mm-Kinofilm, weshalb die vier Teile auch anno 2022 nicht fernsehhaft wirken. Akribisch hielten sich seine Regie und das Skript von Walter Ulbrich, der als Produzent und Weltliteratur-Experte auch Schnitt und Synchronisation überwachte, an die Vorlage von Robert Louis Stevenson (13. November 1850 in Edinburgh - 3. Dezember 1894 in Vailima nahe Apia, Samoa).

Der an Tuberkulose leidende schottische Schriftsteller, der später seine unheimliche und zugleich märchenhafte Liebesnovelle „The Bottle Imp (1891, hierzulande als „Das Flaschenteufelchen“ bekannt) in der zeitgenössischen samoanischen Sprache verfasste und deswegen von den Einheimischen nur liebevoll „Tusitala“ („Erzähler“) genannt wurde, feierte mit „Treasure Island“ („Die Schatzinsel“) seinen ersten finanziellen Erfolg. Der Erstdruck erschien vom 1. Oktober 1881 bis 28. Januar 1882 als Mehrteiler in der Zeitschrift „Young Folks“. In Buchform kam der Abenteuerroman 1883 in London heraus, eine deutsche Übersetzung dann erstmals 1897. Ursprünglich sollte der Band „The Sea Cook: A Story for Boys“ heißen. Charaktere und Motive sind - nach Stevensons eigenen Angaben - unter anderen von Daniel Defoe, Edgar Allan Poe und Washington Irving beeinflusst. William Ernest Henley, Stevensons Mitherausgeber des „London Journal“, war als fußamputierter trinkfester Schotte das Vorbild für den Piraten Long John Silver.

Wo genau das Eiland liegt, verriet der Schöpfer der psychologischen Schauernovelle „Strange Case of Dr Jekyll and Mr Hyde“ (1886, „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“), die sich anhand des Doppelgängermotivs dem Phänomen der Persönlichkeitsspaltung widmete, seinen Leserinnen und Lesern allerdings nicht. Vermutlich in der Karibik, vielleicht auch in der Südsee. Dafür fertigte er eine Zeichnung der Schatzkarte an, die für Ulbrichs Adaption exakt kopiert wurde.

Wie im Roman werden die Ereignisse vom inzwischen erwachsenen Jim Hawkins erzählt. Den Off-Kommentar in der deutschen Fassung übernahm kein Geringerer als Hellmut Lange. Der Berliner Akteur sollte drei Jahre später als Titelheld der „Lederstrumpferzählungen“ (alle vier Folgen am 5. Januar ebenfalls in 3sat) in einem weiteren klassischen ZDF-Abenteuervierteiler hierzulande zum Superstar avancieren. Die Dreharbeiten fanden in der Bretagne, am Gardasee und auf Korsika statt. Dort wurden die Küste und das Landesinnere teilweise als tropische Insel dekoriert, mit Agaven, seltenen Blumen und einigen Palmen.

RolleDarsteller
Jim HawkinsMichael Ande
John SilverIvor Dean
Squire TrelawneyJacques Dacqmine
Doktor LiveseyGeorges Riquier
Kapitän SmolletJacques Monod

„Die Schatzinsel“: Liebeneiner gelingt es, Suspense im Sinne Hitchcocks zu erzeugen

Die vier Teile „Der alte Freibeuter“, „Der Schiffskoch“, „Das Blockhaus“ und „Die Entscheidung“ sind wie aus einem Guss! Liebeneiner gelingt es auch ohne schnelle Schnitte, Suspense im Sinne Alfred Hitchcocks zu erzeugen. Gerade die langsame Erkundung der Insel, wo jeder unbedachte Schritt eine neue Gefahr heraufbeschwören kann, sucht atmosphärisch ihresgleichen. Auch die Action-Szenen sind gekonnt inszeniert. Der Kampf um das Blockhaus beispielsweise ist ein einziges Hauen und Stechen, Treten und Schießen, ohne die heute sogar in Historienfilmen obligatorischen Wire-Fu-Einlagen.

Die Dreharbeiten waren zum Teil genauso lebensgefährlich wie das Endresultat, das - obwohl in Farbe gedreht - noch bei der Erstausstrahlung in Schwarzweiß über den Bildschirm flimmerte: So stürzte Michael Ande bei der Verfolgungsjagd auf dem Schiff so unglücklich in sein Messer, dass ihm nur durch eine Notoperation das Leben gerettet werden konnte. Der Unfall wurde nicht herausgeschnitten, da Ande, der von 1977 bis 2016 den Assistenten von Siegfried Lowitz beziehungsweise Rolf Schimpf in der Krimiserie „Der Alte“ mimen sollte, im Schockzustand die Szene bis zum Ende weiterspielte. Um die letzte Sequenz dieser Hatz mit Israel Hands (Jacques Godin, deutsche Synchronstimme: Klaus Höhne) fertigzustellen, musste er gedoubelt werden. Dies ist deutlich zu erkennen, wenn Jim Hawkins in der Schiffstakelage Israels Angriff abwehren will. An sich war der einstige Kinder-Star („Marianne, meine Jugendliebe“, 1955; „Die Trapp-Familie“, 1956) mit 22 Jahren für den Jim schon zu alt. Da er jünger aussah, kaufte ihm das Publikum die Rolle allerdings ab. 

Lohn für die erlittenen Strapazen waren Traumeinschaltquoten zum Jahreswechsel 1966/67, ausgezeichnete Kritiken und der Perla-Fernsehpreis für den Soundtrack bei der Film- und Fernsehmesse in Mailand. Der Score der tschechischen Komponisten Jan Hanuš und Luboš Sluka wurde vom Filmorchester Praha (FISYO) mit ca. 45 Personen unter Mitwirkung eines gemischten Chores von Pavel Kühn eingespielt. Allerdings waren die Sänger der deutschen Sprache nicht mächtig und mussten den umfangreichen Text des Piratenliedes „Fünfzehn Mann auf des toten Mannes Kiste. Yo-ho-ho und ’ne Buddel voll Rum!“ phonetisch lernen. Deshalb hatten sie große Probleme mit der Aussprache. So hört sich der Auftakt „Fünfzehn Mann“ eher wie „Siebzehn Mann“ an.

Der Liedtext ist eine Eigendichtung Stevensons. Er spielt auf die kleine, baumlose Felseninsel Dead Chest Island an, die südöstlich der Karibikinsel Tortola liegt. Mit ihr ist allerdings nicht die Schatzinsel gemeint, denn diese wimmelt - wie der geneigte Fernsehzuschauer sehen wird - nur so von verholzter Pflanzen. Wie dem auch sei: Die Filmmusik gefiel Walter Ulbrich derartig gut, dass er Auszüge daraus noch für die Nachfolgeproduktionen „Tom Sawyers und Huckleberry Finns Abenteuer“ (1968) und „Die Lederstrumpferzählungen“ (1969) einsetzte.

ZDF-Vierteiler „Die Schatzinsel“ ist „ein Meisterwerk der gehobenen Fernsehunterhaltung“

Schauspieler Ekkehardt Belle, der 1978 in der ebenfalls vierteiligen Stevenson-Adaption „Die Abenteuer des David Balfour“ (Walter Ulbrich setzte hier die Romane „Kidnapped“ und „Catriona“ zusammen) die Hauptfigur eindrucksvoll verkörperte, bezeichnet die 1966er-ZDF-Fassung von „Die Schatzinsel“ zu Recht als „ein Meisterwerk der gehobenen Fernsehunterhaltung“. Dagegen verblassen alle anderen rund 30 Verfilmungen. Am übelsten war Hansjörg Thurns ProSieben/ORF-Zweiteiler aus dem Jahr 2007.

In dem vollmundig als „Event-Movie“ angekündigten Trash-Filmchen liefert sich die illustre Darsteller-Riege um Tobias Morretti als Long John Silver selten dämliche Dialog-Duelle, die natürlich nicht Stevensons Feder entstammen. Und um dem ganzen noch die Krone aufzusetzen, verliebt sich Jim Hawkins (François Goeske) in Captain Flints im Roman keinesfalls auftauchende Tochter Sheila (Diane Willems) … Schmonzette statt Schatzinsel - so einen Unfug gab es bei Walter Ulbrich, Wolfgang Liebeneiner, Ivor Dean, Michael Ande und Co. zum Glück nicht!

„Die Schatzinsel“

Vier Teile, Dienstag, 4. Januar 2022, 3sat, ab 11.45 Uhr. Auch in der ZDF-Mediathek abrufbar.

Ivor Dean ließ der Stoff, aus dem die Fernsehträume sind, zeitlebens nicht mehr los. Er trug sich nach dem internationalen Triumph des Vierteilers mit dem Gedanken, eine Fortsetzung zu drehen, und entwickelte mit dem englischen Produzenten Robert S. Baker einen Drehbuchentwurf. Durch seinen Tod 1974 wurde das Projekt jedoch erst einmal auf Eis gelegt. Unter dem Titel „Return to Treasure Island“ („Die Rückkehr zur Schatzinsel“) entstand 1986 dann nach seinem Skript postum eine im Original zehnteilige Serie mit Brian Blessed als Long John Silver und Christopher Guard als erwachsenem Jim Hawkins. Die lief bei uns nur einmal 1987 im Westdeutschen Werbefernsehen (WWF). Eine Wiederausstrahlung ist also längst überfällig. (Marc Hairapetian)

Unser Autor Marc Hairapetian hat das Kapitel „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ über die Hörspiel-Adaptionen der Abenteuer-Vierteiler im ZDF in der zweiten Auflage des Bildbandes „Seewolf und Co.“ (Oliver Kellner/Ulf Marek, Schwarzkopf und Schwarzkopf, Berlin 2005, Euro 29.80) verfasst.

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