Die Berlinale-Bären – Heilkräfte der Kunst

Großer Jurypreis für Christian Petzolds Tragikomödie „Roter Himmel“, Goldener Bär für Nicolas Philiberts Dokumentarfilm „Sur l’Adamant“: Kluge Preise am Ende der Berlinale.
Einen Corona-Fiebertraum benannte Christian Petzold auf der Berlinale als Inspiration, nun wurde seine poetische Tragikomödie „Roter Himmel“ mit dem zweithöchsten Festivalpreis geehrt, dem Großen Preis der Jury. Wenn aus Alpträumen Wunschträume werden, die sich auf das Herrlichste erfüllen – dann ist das Wunder des Kinos noch lebendig. Petzold, der vor Überwältigung auf der Bühne sein Englisch vergaß, hat einen kleinen, großen Film gedreht, der seine Magie erst ganz entfaltet, wenn das Licht im Kino wieder angeht. Und diese Kunstform sich leise daran macht, zu tun, was sie am besten kann – unserer Leben um eine kleine Wendung zu bereichern.
Die Berlinale hat diesen Zauber unter Carlo Chatrians Leitung wieder an vielen Ecken entfacht, mehr als man auf Anhieb vielleicht bemerkt hat. Dazu gehörte natürlich insbesondere die Präsenz, die Steven Spielberg zeigte. Als er den Goldenen Ehrenbären entgegennahm, gab er den Dank vielfach zurück – für die Hilfe deutscher Institutionen und Privatpersonen bei der Shoah-Foundation, die inzwischen an Genozide in aller Welt erinnert. Und an das deutsche Kino, das ihn tief beeinflusst habe, von Friedrich Wilhelm Murnau über Ernst Lubitsch, Fassbinder, von Trotta und manche andere bis zu „Thomas“ Tykwer.
Und an dieser Stelle muss man doch noch einmal an das deutsche Kino bei diesem Festival erinnern, das noch zwei weitere Preise erhielt: Angela Schanelec für ihr schwebend-philosophisches Drehbuch zu „Music“ und Darstellerin Thea Ehre für ihre einnehmende, transsexuelle Femme fatale im etwas überladenen Film Noir „Bis ans Ende der Nacht“. Das deutsche Kino meldet sich also gerade im rechten Moment zurück, als Claudia Roth eine stärkere Förderung für künstlerische Qualität ankündigt. Gerade Petzolds große und seltene Auszeichnung (als letzte deutsche Regisseurin erhielt Maren Ade den Preis, das war 2009) erinnert aber auch an ein weiteres Problem, das noch zu lösen ist: Die Rolle der Deutschen Filmakademie in der staatlichen Filmförderung.
Die von Kristen Stewart geleitete Jury dürfte kaum gewusst haben, welch entschiedene Ablehnung Petzolds Film nur wenige Wochen zuvor ausgerechnet durch jene Berliner Institution erfahren hatte, die den höchstdotierten deutschen Kunstpreis vergibt. 16 Akademiemitglieder und die Bundestagsabgeordneten Tabea Rößner (Grüne) und Katrin Budde (SPD) gaben dem Film schon in der ersten Runde keinen einzigen Punkt und verhinderten damit alle Nominierungen. Dieser Skandal erinnert an den Vorfall, der 2004 überhaupt erst zur Einsetzung des Branchenvereins als Vergabeinstanz geführt hat. Das bis dahin tätige, unabhängige Gremium hatte den Spielfilm „Oi! Warning“ ausgeschlossen, das Skinhead-Drama der Reding-Brüder. Seit Langem wurde über eine Benachteiligung des Nicht-Mitglieds Petzolds spekuliert.
Gleichwohl hatte sich Kulturstaatsministerin Claudia Roth noch im vergangenen Jahr hinter die Akademie gestellt. „Das Auswahlverfahren durch die Deutsche Filmakademie hat sich bewährt“, ließ sie einen Sprecher auf unsere Anfrage hin erklären. Davon kann nun wohl nicht mehr die Rede sein. Nun muss diese Auszeichnung zurück zu einem unabhängigen Vergabegremium. Davon könnte auch die Filmakademie profitieren, wenn sie ihre „Lolas“ – nach dem Vorbild der Oscars – künftig als undotierte Ehrenpreise vergäbe.
Preise der 73. Berlinale
Goldener Bär für den besten Film: „Sur l’Adamant“ von Nicolas Philibert
Silberner Bär Großer Preis der Jury: „Roter Himmel“ von Christian Petzold
Silberner Bär Preis der Jury: „Mal Viver“ von João Canijo
Silberner Bär für die beste Regie: Philippe Garrel für „Le grand chariot“
Silberner Bär für die beste schauspielerische Leistung in einer Hauptrolle: Sofía Otero in „20 000 especies de abejas“
Silberner Bär für die beste schauspielerische Leistung in einer Nebenrolle: Thea Ehre in „Bis ans Ende der Nacht“
Silberner Bär für das beste Drehbuch: Angela Schanelec für „Music“
Silberner Bär für herausragende künstlerische Leistung: Kamerafrau Hélène Louvart für „Disco Boy“
Berlinale Dokumentarfilmpreis: „El eco“ von Tatiana Huezo
Sektion Encounters
Preis für den Besten Film: „Here“ von Bas Devos
Preis für die Beste Regie: „El eco“ von Tatiana Huezo
Spezialpreis der Jury: „Orlando, ma biographie politique“ von Paul B. Preciado, „Samsara“ von Lois Patiño
Sektion Berlinale Shorts
Goldener Bär für den Besten Kurzfilm: „Les chenilles“ von Michelle Keserwany und Noel Keserwany
Silberner Bär Preis der Jury (Kurzfilm): „Marungka tjalatjunu“ von Matthew Thorne, Derik Lynch
Sektion Panorama
Panorama Publikums-Preis für den besten Spielfilm: „Sira“ von Apolline Traoré
Panorama Publikums-Preis Dokumentarfilm: „Kokomo City“ von D. Smith
Teddy Awards
Spielfilm: „All the Colours of the World Are Between Black and White“ von Babatunde Apalowo
Dokumentar-/Essayfilm: „Orlando, ma biographie politique“
Teddy Jury Award: Vicky Night in „Silver Haze“
Sektion Perspektive Deutsches Kino
Kompass-Perspektive-Preis: „Sieben Winter in Teheran“ von Steffi Niederzoll
Heiner-Carow-Preis: „Knochen und Namen“ von Fabian Stumm
Eine Überraschung erschien vielen der Goldene Bär für den Dokumentarfilm „Sur l’Adamant“ des Franzosen Nicolas Philibert. Tatsächlich kommt es nicht selten vor, dass sich der einzige nicht-fiktionale Beitrag eines Wettbewerbs an die Spitze setzt. Es liegt in der Natur des dokumentarischen Mediums, dass es nicht nur der Wirklichkeit, sondern auch der menschlichen Befindlichkeit ganz andere Einfallstore öffnen kann als jeder Spielfilm.
Diese Innenansicht eines Pariser Kulturorts für psychisch Kranke auf einem Boot auf der Pariser Seine besitzt zwar nicht unbedingt die perfekte Form, die man von einem Festivalgewinner erwartet. Entscheidender aber ist der Raum, den der Filmemacher den Menschen darin gerade durch die Offenheit seiner Beobachtungen schenkt – und den Kunstwerken oder Chansons, die sie kreieren. Eine pessimistische Notiz im Abspann weckt Zweifel, ob derart hohe Investitionen in Kunsttherapie eine politische Zukunft haben. Tatsächlich kann man nach dem Film an den Heilkräften der Kunst auf die gesamte Gesellschaft nicht mehr zweifeln.
Auch nicht ganz so überraschend, wie es vielleicht erscheinen mag, ist der Preis für das virtuose Spiel der Kinderdarstellerin Sofia Otero („20 000 especies de abejas“): mit mitreißender Selbstverständlichkeit findet ihrer achtjährige Filmfigur ihre geschlechtliche Identität.
„Kultur für alle“, Hilmar Hoffmanns fast vergessene Forderung nach einer schrankenlosen Kulturpolitik, wirkte bei dieser vom Publikum aufgesogenen Berlinale wieder lebendig. Und Jurypräsidentin Stewart war das Gesicht einer sozialen Sensibilität, wie sie nicht nur das Kino derzeit ganz besonders braucht. Ihre Jurybegründungen waren ungewohnt poetisch. Und sie fand mit ihrer Jury die Kostbarkeiten eines gewiss nicht im Ganzen tadellosen Wettbewerbs. Dazu zählte „Disco Boy“, das surreal-angehauchte Psychogramm eines Fremdenlegionärs - nicht nur wegen der herausragenden Leistung Franz Rogowskis. Ausgezeichnet wurde die innovative Bildgestaltung von Hélène Louvart, die unter anderem mit einer Nachtsicht-Kamera arbeitete.
Und noch ein weiteres innovatives, ungewöhnlich präzise gearbeitetes Erzählstück entging der Jury nicht. „Mal Viver“ des Portugiesen João Canijo kreist um drei Frauen, die Geschäftsführerin eines Hotels, ihre Mutter und ihre Tochter. Der verblasste Luxus des Ortes gibt unterschiedlichen Geschichten Raum, ohne dabei so ordentlich parallel erzählt zu werden wie in Ensemblefilmen à la „Menschen im Hotel“. Um sein Vexierspiel noch einmal zu intensivieren, hat Canijo noch eine Parallelversion gedreht, „Viver Mal“, die noch einmal neue Nebenstränge eröffnet und in der Festivalsektion „Encounters“ lief. Es ist ein ebenso verführerisches wie doch reserviertes Kino, das beweist, was bei einem Festival gerade wieder einmal zu beweisen war: Dass das Kino in den Zeiten der Streamingdienste nicht am Ende, sondern erst am Anfang ist.

